Der Sklave von Midkemia
studierte begeistert die Geschichte. Er zog Schriftrollen den Poeten und Balladen vor und verbrachte Stunden mit den Schreibern in den Bibliotheken.
»Gut.« Desio verzog nachdenklich den Mund. »Ich hasse Lesen, also wird er wohl kaum gekommen sein, um mit mir eine gelehrte Unterhaltung zu führen. Ich werde unseren ungeladenen Gast am Dock begrüßen, und wenn ich keine Lust habe, dem jüngeren Sohn der Anasati zuzuhören, werde ich ihn fortschicken, ohne weitere Zeit zu verschwenden.«
»Wünscht Mylord eine Ehrengarde?«
Desio rückte einen seiner Juwelen zurecht und reichte den Spiegel einem der Diener, der ihn ehrerbietig in einen Samtschuber steckte. »Wie viele Männer, sagtet Ihr, hat Jiro dabei?«
»Zwölf.«
»Dann laßt zwanzig Soldaten zu den Docks kommen. Es ist zu heiß für eine große Menge, und ich habe kein Bedürfnis nach einem Schauspiel.«
Die Mittagssonne brannte auf die grauen Bretter der Docks herab und ließ die Abzeichen der Ehrengarde aufblitzen. Desio war empfindlich gegen das Licht und blinzelte über das Wasser zur herannahenden Barke der Anasati. Das Schiff war nicht beeindruckend genug, um einem offiziellen Besuch zu entsprechen; es war klein und nur durch Farbe verziert, und seine ursprüngliche Aufgabe war es, Nachrichten auf dem Gagajin zu transportieren – nur daß es bei dieser Reise nicht um das Übermitteln einer Botschaft ging. Zwischen den Reihen von Jiros Ehrengarde machte Desio die massigen Ausmaße einer schweren Holzfrachtkiste aus.
Die Kiste erregte seine Neugier. Als der Steuermann die Barke an die Docks manövrierte, ließ Kommandeur Irrilandi auf Befehl Desios die Soldaten Haltung annehmen.
Das Schiff stieß gegen den Landungssteg. Sklaven an Bug und Heck sprangen ans Ufer, um die Leinen festzumachen. Ein seltsames und beunruhigendes Heulen drang aus der Tiefe der Kiste; offensichtlich enthielt der Behälter ein bösartiges Tier. Desio, der bei den kaiserlichen Spielen begeistert die Kämpfe zwischen Bestien und Kriegern verfolgte, reckte den Hals, bis ein kleiner Stups von Incomo ihn daran erinnerte, Haltung zu bewahren.
Soldaten im Rot und Gelb der Anasati traten bereits auf den Kai. In ihrer Mitte stand Jiro in einer mit Flußperlen verzierten Samtrobe und grüßte seinen Gastgeber mit einer anmutigen Verbeugung. Er war nur wenig älter als Desio, zeigte aber deutlich mehr Haltung und beachtete strikt die Formen. Ohne zu zögern, eröffnete er das Gespräch. »Geht es Euch gut, Lord Desio?«
»Es geht mir gut, Jiro von den Anasati.« Mit zusammengekniffenen Augen erwiderte Desio die vorgeschriebene Antwort. »Geht es Eurem Vater gut?«
»In der Tat, Mylord.« Jetzt drang lauteres, noch wilderes Knurren aus der Frachtkiste. Jiro ließ so etwas wie ein hochmütiges Lächeln sehen. Er wartete noch einen kurzen Augenblick, wie um die Spannung zu erhöhen, dann holte er Luft, um mit dem ermüdenden förmlichen Begrüßungsritual fortzufahren.
Doch Desio hatte bereits die Geduld verloren. Er brannte darauf zu fragen, was in der Kiste war, und platzte jetzt frei heraus: »Ich bin glücklich, sagen zu dürfen, daß es meiner gesamten Familie gutgeht.«
Vom Protokoll befreit, warf Jiro einen selbstgefälligen Blick auf Incomo, dem seine Verärgerung förmlich ins Gesicht geschrieben stand, der jedoch in diesem Augenblick keine Möglichkeit hatte einzuschreiten. »Danke«, murmelte der Sohn der Anasati. »Es ist sehr freundlich von Mylord Desio, einen unangemeldeten Besucher zu begrüßen. Ich entschuldige mich für meine Unhöflichkeit, doch ich war zufällig hier in der Nähe und hielt es für sinnvoll, wenn wir uns einmal unterhielten.«
Etwas kratzte an den Latten der Kiste, und die Sklaven auf der Barke wurden unruhig. Desio trat vor Ungeduld von einem Bein aufs andere: Jetzt war der Augenblick gekommen, da er den Gast für eine Erfrischung in sein Haus einladen mußte, wenn er ihn nicht sofort wegschicken wollte. Und wenn es ihn einerseits auch ärgerte, den Sohn eines Feindes ehren zu müssen, so verspürte er andererseits eine gewisse Faszination.
Während Desio noch zauderte, ergriff Jiro die Initiative. »Bitte, Lord, ich hatte nicht vor, Eure Gastfreundschaft in Anspruch zu nehmen. Ich habe lebende Kreaturen an Bord, die das Schwanken der Barke nicht mögen. Es ist am besten für mich und auch für sie, wenn wir uns hier unterhalten.«
Schweiß rann über Desios Gesicht und brachte es zum Jucken. Jiro mochte ohne ein kühles Getränk auskommen,
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