Der Skorpion von Ipet-Isut
die Feldzeichen des Königs zu erkennen: eine große goldene Horusstatuette auf einer Stange, die gestickten Abbilder der Kobra- und der Geiergöttin auf Bannern. Der Wind bauschte sie und ließ sie auf eine ganze eigene Art lebendig erscheinen. Hohe Offiziere in blitzenden Rüstungen erspähte Debora, dann eine offene Sänfte. Aber der Mann, der sich jetzt von seinem Sitz erhob, um an Bord eines der Schiffe zu gehen, war größer und schlanker als sie Ramses in Erinnerung hatte…
Debora blinzelte. In ihrem Kopf pochte und dröhnte es und erinnerte sie daran, dass sie gestern Abend das Letzte gegessen hatte. Die Gestalt dort zwischen den Offizieren trug auch keine der Königskronen, die Debora bisher bei offiziellen Auftritten des Pharao gesehen hatte, sondern nur einen ledernen Helm mit Stirnreif…
Oh, ihr Götter! Amenemhat!
Sie war so überrascht, dass sie den Halt auf ihrem Aussichtspunkt verlor und in die weiter unten dicht gedrängt stehenden Neugierigen rutschte. Ein Junge knuffte sie wütend und eine Frau ereiferte sich in Schimpftiraden. Debora war alles gleichgültig. Selbst ihre Ellenbogen benutzend kämpfte sie sich vorwärts. Sie brüllte Amenemhats Namen, aber der allgemeine Lärmpegel schluckte ihre Worte. Es war so schwierig, voran zu kommen! Mittlerweise vermochte sie nicht einmal mehr etwas zu sehen! Kommandos klangen von den Schiffen, Peitschen pfiffen durch die Luft. Angst, ihren Geliebten nicht mehr zu erreichen, schnürte ihr plötzlich die Kehle zu und sie konnte nicht einmal mehr rufen.
„Hier geht es nicht durch, Mädchen!“
Der barsche Anruf glitt an Debora vorbei, aber einen Moment darauf packten sie kräftige Hände an den Schultern und sie wurde aus dem Weg einer Beladestafette gezerrt. Mit der Kraft der Verzweiflung trat sie nach dem Mann, der sie festhielt. Als dieser sie unerwartet rasch losließ, stieß sie gegen einen der Arbeiter und brachte ihn mitsamt seinem Brotkorb zu Fall. Tumult brach aus. Wieder suchte sie jemand zu greifen, aber diesmal entwischte Debora ins Wasser.
Amenemhat wurde durch das Geschrei der Steuerleute aufmerksam, dass etwas nicht in Ordnung war. Vermutend, es gäbe ein Problem mit seinem Boot, trat er auf die gestikulierenden Männer zu – und entdeckte Debora, die sich an einem Tau festklammerte. Einer der Ruderer war bemüht, ihre Hände mit einem kräftigen Schlag zu lösen, damit sie abfahren konnten.
Amenemhat riss den Mann so heftig zurück, dass dieser aufs Deck stolperte und streckte Debora die Hand entgegen. „Was bei der Neunheit der Götter tust du hier, Meritamun? Du solltest in Ipet-Isut sein!“
Sie hob den Kopf, blickte ihn an, und Tränen liefen über ihr Gesicht. Die ganze Anspannung und Angst der letzten Tage entlud sich jetzt, ohne dass sie etwas dagegen tun konnte. Sie hielt sich an ihm fest, ohne einen Gedanken an all die Offiziere und Bootsleute um sie zu verschwenden.
„Du musst zurück, Meritamun“, flüsterte Amenemhat ihr zu und gebot dem unruhig näher getretenen Offizier hinter ihm mit einer Geste zu warten. Sie blickte ihn an, so unschuldig, so voller Vertrauen, so voller Liebe… Wie sollte er ihr je die Wahrheit sagen können?
Wie sollte er ihr sagen, was er getan hatte? Sie hatte ihn so lange für ein Scheusal gehalten... Und - hatte sie nicht Recht gehabt? Er hatte sich die Augen des Herzens verbunden, sich nur allzu gern von einer trügerischen Unschuld berauschen lassen und sich bemüht, auch sie zu blenden… Aber jetzt war der Traum zu Ende...
„Meritamun. Ich bin auf dem Heerzug gegen die Libyer und Smendes von Men-Nefer. Ich kann keine Stunde länger warten und dem Feind noch mehr Zeit geben, verstehst du? Gehe zurück in den Tempel, dort wirst du sicher sein, egal welchen Ausgang die Schlacht nimmt!“
„Nein!“ Ihre Stimme war leise, aber bestimmt. „Ich bleibe bei dir!“
„Du wirst zurück gehen“, befahl Amenemhat mit derselben Entschlossenheit und löste sich aus ihrer Umarmung, orderte einen der jungen Soldaten zu sich. „Du wirst meine Gemahlin nach Ipet-Isut begleiten und für ihre Sicherheit sorgen!“
Der Mann nickte und griff Debora am Arm.
„Aber…“ versuchte sie zu protestieren, doch Amenemhat schnitt ihr das Wort ab. „Du wirst tun, was ich dir sage!“ Er widerstand der Versuchung, sie zum Abschied erneut in die Arme zu nehmen, legte stattdessen alle Härte in seinen Blick, deren er fähig war.
Debora verstummte augenblicklich, als hätte ein Schlag sie
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