Der Skorpion von Ipet-Isut
den Brustpanzer an. Das mit kleinen Bronzeplatten verstärkte Leder war schwer und er fühlte sich eher unbehaglich damit. Eine der langen, bis über die Schenkel reichenden Rüstungen, wie der General und seine hohen Offiziere sie trugen, würde er auf keinen Fall benutzen! Ein weiterer Handgriff befestigte das Schwert an seiner Seite, als außer Atem ein Bote in den Raum stürmte. Es war jener, den er vor Beginn der Kronratssitzung nach Ipet-Isut entsandt hatte.
„Erhabener, ich habe mit dem Zweiten und dem Vierten Gottesdiener gesprochen und noch andere Priester befragt: Meritamun hat den Tempel gestern Abend verlassen. Sie ist nicht mehr zurück gekehrt seitdem.“
Amenemhat nahm die Nachricht mit einem Nicken zur Kenntnis, das nichts von der inneren Aufruhr verriet, die bei diesen Worten in ihm aufflammte. Eine ganze Fülle Besorgnis erregender Szenarien huschte ihm durch den Kopf. Aber er durfte jetzt ganz einfach nicht an sie denken! Seine ganze Kraft konnte nur einer Sache dienen, der Zurückschlagung des feindlichen Heeres! Nichts anderes durfte jetzt in seinem Herzen Platz haben, nicht einmal seine Gemahlin. Er hatte die Pflicht zu erfüllen, die er sich auferlegt hatte!
„Sind die Opferzeremonien veranlasst?“ fragte er weiter. Der Bote bejahte.
Meritamun ist intelligent und stark. Es wird ihr nichts geschehen. Amun wird sie beschirmen. Er atmete tief ein und prüfte noch einmal den Sitz des Waffengurts. „Lasst uns keine Zeit mehr verlieren und gehen!“
In diesem Moment eilte der Höfling mit Nefertaris Botschaft in den Raum und hielt Amenemhat zurück. Er erwog für einen Moment, ihr bestellen zu lassen, dass es ihm absolut unmöglich sei, sie jetzt zu sehen. Aber dann folgte er dem Höfling doch. Vielleicht hielt sie wichtige Informationen bereit über seine Feinde hier am Hof…
Nefertari hatte die vergangene Zeit genutzt, sich wenigstens zu säubern und sich in ein frisches Gewand zu kleiden, für alles Weitere fehlte ihr im Augenblick ganz einfach die Kraft. Schon am Schritt erkannte sie den Hohepriester, und als er das Zimmer betrat blickte sie ihm erwartungsvoll entgegen. „Amenemhat…“ murmelte sie, die Stimme noch immer heiser, und mit einer zittrigen Hand durch ihre unordentlichen Haare fahrend. „Ich habe nicht geglaubt, dich je wiederzusehen. Verzeih mir, ich muss… ganz einfach einen schrecklichen Anblick bieten…“
„Nefertari, dein Aussehen hat im Moment nur geringe Bedeutung für mich, glaube mir. Ich habe eine libysche Armee mit Bündnistruppen der Gaufürsten in Marsch Richtung Waset.“
„Iny ist tot…“ Ohne dass sie es wollte, stiegen ihr erneut Tränen in die Augen.
„Er hatte vor, Waset und ganz Kemet aufzugeben, Nefertari! Der Feind nähert sich, und er hatte weder den Mut noch die Energie, irgendetwas zu unternehmen! Alles, was er getan hat, war die Entscheidung zu vertagen und in seinem Harem zu verschwinden!“ Amenemhat griff Nefertari an den Schultern. „Iny hätte den Libyern die Tore geöffnet, wenn er nur einen Tag länger gelebt hätte! Und mich im Kerker verrotten lassen! Er ist es nicht wert, dass du ihm eine Träne nachweinst!“
Nefertari hatte die Worte gar nicht gehört.
„Du…“ kam es leise über ihre Lippen, „…du hast ihn getötet, nicht wahr? Du warst es?“
„Es blieb keine andere Wahl mehr! Den Göttern sei Dank, dass der Wesir und General Sobekemsaf die Sache ebenso gesehen haben!“
„Du hast ihn getötet…“ wiederholte Nefertari nur wieder. Ihr Blick bekam einen leeren, abwesenden Ausdruck. Sie schien durch den Hohepriester hindurch zu sehen. „Deinen Sohn… deinen Sohn… o gütige Iset…“
„Nefertari? Was redest du da?!“
Er schüttelte sie, zwang sie, ihm wieder ins Gesicht zu blicken. „Nefertari?!“
„Iny… war dein Sohn… unser Kind… unseres…“
Ihr Kopf sank auf ihre Brust, sobald er sie losließ. Sie taumelte zurück gegen einen der Schemel und ließ sich hineinfallen. Amenemhat starrte sie an.
„Es geht dir nicht gut und du bist nicht bei klarem Verstand“, sagte er leise.
„Iny war dein Sohn und du hast ihn umgebracht!!!“ Ihre schrille Stimme hallte von den Wänden wider. Amenemhat stand ungerührt wie eine Statue, wagte nicht die kleinste Bewegung in der instinktiven Furcht, das Entsetzen könnte sich Bahn brechen und seine Selbstkontrolle hinwegfegen.
„Es ist nicht wahr.“
„Du willst es nicht sehen, einfach immer noch nicht sehen!“ schluchzte Nefertari
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