Der Skorpion von Ipet-Isut
im Käfig umher läufst?!“
Amenemhat hörte den Vorwurf überhaupt nicht. Am späten Nachmittag hatte er ein paar Tempeldiener zu jenem Hof gesandt, den Khenti ihm als Heim der Fremdländerin genannt hatte. Der Seneb-Re-Hof! Er hatte sich erinnert, dass der Herr dieses Hauses dem Pharao des Öfteren kostbare Pferde verkauft hatte. Man munkelte, dass der alte Barkos aus dem übel beleumdeten Räubervolk der Hapiru stammte – aber das war nichts, was ihn jetzt etwas anging. So lange der Fremdländer hier in Waset weilte, hatte er sich offenbar nichts zu schulden kommen lassen; anderenfalls wären er und seine flammenhaarige Tochter viel eher in sein Blickfeld geraten...
Debora. Er konnte es kaum erwarten, dieses Flammenhaar wieder zu sehen... wie es über ihre nackten Schultern fiel... Ihre helle Haut zu berühren... Es würde aufregend sein und gewiss das Entzücken bieten, das Nefertari einfach nicht mehr in ihm wachrufen konnte… Sie schien unverdorben von den gekünstelten Spielereien der Frauen am Hof, die es sich zum Zeitvertreib erkoren hatten, Männer um ihre mit Henna gefärbten Finger zu wickeln! Unverdorben und rein wie das Licht... Faszinierend und verlockend…
Der Zweite Diener Amuns war am Ende seiner Geduld und ließ die Schärpe fallen. Gereizt fuhr Amenemhat herum.
„Lass mich allein!“
„Aber Erhabener! Ich habe doch immer diesen Dienst verrichtet!“
„Raus!“
Hastig klapperten die Papyrussandalen des Alten nach draußen und der Hohepriester vollendete mit einigen unziemlich zornigen Handgriffen sein Ornat.
Das Mondlicht glänzte silbern auf den sich im Wind wiegenden Schilfhalmen und beschien den Weg der drei einsamen Wanderer. Einer von ihnen trug eine kleine Öllampe und hielt aufmerksam nach Schlangen und Skorpionen Ausschau, die ihren nackten Füßen gefährlich werden konnten. Ab und zu murmelte er Zaubersprüche an die Göttin Selket gegen das gefährliche Getier.
„Wir müssen uns beeilen! Sonst ist nicht mal mehr das Viehtreibertor geöffnet, und wir müssen die Nacht hier draußen verbringen!“ mahnte sein Kamerad. „Und der Herr wird uns mit Sicherheit auspeitschen lassen!“
„Ist das dort das Viehtreibertor? Dort, wo das Licht zu sehen ist?“ fragte die zuvorderst gehende Person und schob die Kapuze ihres Umhangs zurück. Das Mondlicht fiel auf Deboras Gesicht.
„Nein, das ist das Haupttor! Der ‚Bogen des Zufriedenen Herzens’“, antwortete einer ihrer Begleiter. „Aber warum ist es zu dieser Stunde noch geöffnet? Das wundert mich.“
„Beeilen wir uns, Herrin! Wer weiß, vielleicht ist etwas geschehen...“
Das Mädchen nickte. Bei Einbruch der Dunkelheit hatte sie ihr Zuhause verlassen. Ihr Vater hatte darauf bestanden, dass sie nicht einmal von Tameri Abschied nahm. Wie eine Diebin hatte sie sich davonschleichen müssen und war von den beiden Sklaven des Phöniziers in Empfang genommen worden. Das Letzte, was sie noch sehen konnte, war die in der Dämmerung undeutliche, breitschultrige Gestalt ihres Vaters. Tränen brannten ihr in den Augen, aber sie wollte sich vor den Fremden bei ihr nicht benehmen wie ein kleines Kind.
Beim Näherkommen zeigte sich, dass die drei Wanderer durchaus nicht die Einzigen waren, die zu so später Stunde in Waset Einlass begehrten. Zahlreiche Menschen strebten durch das Tor, bepackt mit Krügen, Körben und Bündeln. Das aufgeregte Gegacker von Hühnern, die ihre Besitzer an den Beinen gepackt hielten, war zu hören, und das Meckern von Ziegen. Kurz vor der Mauer kämpfte ein Mann mit seinem störrischen Esel, dessen laute Schreie alles übertönten. Mensch und Tier wirkten abgehetzt und müde, einige Kranke und Verletzte waren offenbar ebenfalls unter den Ankömmlingen.
„Flüchtlinge aus dem Delta!“ flüsterte einer von Zoros’ Leuten. „Umso besser, da werden wir überhaupt nicht auffallen! Ich habe gehört, Amenemhat unterhält überall seine Spione. Ich möchte nichts mit ihm zu tun haben...“
„Glaubst du ich?“ antwortete sein Begleiter ebenso leise. „Ich habe einmal munkeln gehört, er könne die Seele von ihrem Körper trennen und in ewiger Finsternis umherwandeln lassen!“
„Die Seele vom Körper trennen?!“ Der Andere machte eine hastige Geste in Richtung seiner Schutzamulette.
Debora bekam von der kurzen Unterhaltung nichts mit. Sie war viel zu sehr in Beschlag genommen von all dem Neuen um sie herum. Sie stand zum ersten Mal auf dem Boden der heiligen Stadt Kemets. Aber so hatte
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