Der Skorpion von Ipet-Isut
Deboras Namen rufend. Als sich eine Frau vor ihm nieder warf, vergaß er alle Vorsicht und zog die Fetzen Stoff, mit denen sie ihren Kopf bedeckt hatte, herunter. Ein dunkeläugiges Gesicht streckte sich ihm entgegen. „Hilf mir, Erhabener!“ flüsterte eine heisere Stimme. „Ich war Sängerin im Tempel…“
Sie versuchte, seine Hand zu greifen, doch Amenemhat wich hastig zur Seite.
„Fass mich nicht an!“
„Hilf mir! Hilf mir!“ heulte die Frau verzweifelt.
Doch der Priester eilte an ihr vorbei, den Blick auf die niedrigen Erdhöhlen gerichtet, in denen die Kranken hausten. Das Licht der Fackel riss immer neue verstümmelte Gestalten aus der Dämmerung. Der Gedanke, zwischen diesen lebenden Toten Debora zu finden, ließ ihn schaudern. Hatte ihr Vater die Wahrheit gesagt? Doch sie konnte noch nicht so entstellt wie all die anderen hier sein! Sie war noch so makellos gewesen, als er sie beim Totenfest in West-Waset zu sich gerufen hatte! Es musste eine Möglichkeit geben, die Krankheit zu heilen. Lagen nicht in den Archiven von Ipet-Isut genügend Rezepturen gegen alle Plagen der dies- und jenseitigen Welt? Es musste ein Mittel geben, sie zu retten! Und sie zu seinem Eigen zu machen! Für einen Augenblick war Amenemhat geradezu besessen von dem Gedanken, egal, welche Gefahren es bergen mochte.
Aber… sie war nicht hier!
Nein, sie war nicht hier! Er blieb stehen, wandte sich um und erkannte, wie weit er sich von seinen Begleitern entfernt hatte, die noch am Eingang warteten. Auch seinen kleinen Führer konnte er nirgends mehr entdecken – wahrscheinlich war er längst auf und davon!
Und er selbst hatte sich unvorsichtig in eine gefährliche Situation gebracht. Er war fast schon umringt, und als er einen weiteren Schritt tat, schloss sich der Kreis. Die Fratzen um ihn waren undeutbar. Suchten sie verzweifelt nach Hilfe oder wollten sie Rache an den Lebendigen, Reinen, die sie an diesen Ort des Todes verstoßen hatten? Rücksichtslos warf er seine Fackel gegen die Kreaturen vor sich und begann zu laufen, als jene aufheulend zurückwichen.
Niemand der Kranken vermochte ihm zu folgen. Unbeschadet erreichte er den Ausgang der Kolonie und seine Sänfte. Er tauchte die Hände in das mitgebrachte Wasser, wusch sich so gründlich wie möglich und atmete tief den Weihrauch ein. Zorn begann sich in ihm auszubreiten. Er, der Herr von Ipet-Isut, hatte sich von einem Fremdländer offenbar an der Nase herumführen lassen! Sich in die Sänfte zurücklehnend beschloss Amenemhat, den Seneb-Re-Hof am nächsten Tag aufzusuchen. Es würde sich zeigen, ob man dort wagte, ihm ins Gesicht zu lügen!
Debora erwachte von lautem Geschrei. Einen Moment später roch sie den Rauch und war auf den Beinen. Die Stimmen vom Hof klangen wütend; auch Zoros hörte sie. Er brüllte irgendetwas in seiner Muttersprache, das sie nicht verstand. Hastig den gewebten Gürtel zusammen knotend rannte das Mädchen aus ihrer Kammer hinaus auf die hölzerne Galerie.
Drüben aus dem Warenlager schlugen Flammen! Verzweifelt suchten einige Knechte noch etwas zu bergen, doch es war aussichtslos. Während Debora die Stufen hinunter lief erkannte sie, dass es sich um ganz und gar kein Unglück handelte, wie sie erst geglaubt hatte. Am großen Tor des Anwesens lieferten sich Zoros’ Leute einen heftigen Kampf mit aufgebrachten Eindringlingen. Fäuste flogen, und mit allem, was irgendwie als Waffe zu gebrauchen war, wurde aufeinander eingeschlagen. Einer der zornigen Einbrecher schleuderte gerade eine weitere Fackel auf das Dach des Hauses. Der Qualm wurde dichter und die Auseinandersetzung erbitterter.
Debora bemühte sich, ihre zitternden Beine zum Laufen zu bewegen. Dicht neben ihr flammte ein weiterer Brandsatz auf. Durch die Rauchschwaden sah sie den Hausherrn zum Garten und dem Nebentor hasten, seinen Umhang um eine kleine Kiste geschlagen.
Das Mädchen überlegte, ihm zu folgen, aber die wütende Meute, die eben in den Hof stürmte, ließ sie von dem Plan Abstand nehmen. Sie landete in einer Sackgasse beim Brotofen. Verzweifelt sah sie sich um, hustete und rang nach Atem, als der Wind den Rauch in ihre Richtung trieb. Auch das Geschrei der Kämpfenden klang näher. „Plündern! Plündern!“ brüllte jemand.
Kurz entschlossen riss Debora ihren Rock auseinander, um beweglicher zu sein und kletterte über den Ofen auf die Mauer. Putz bröselte unter ihren Fingern, sie rutschte beinahe ab und eine Hand packte im letzten Moment
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