Der Skorpion von Ipet-Isut
dieser Entwicklung der Ereignisse hatte er nicht gerechnet! Nicht damit gerechnet, dass ein Mensch wahnsinnig genug sein könnte und den ‚Ort der Verdammten’, das Tal der Aussätzigen zu betreten! Nein, so leicht, wie er geglaubt hatte, würde Amenemhat von Ipet-Isut Debora nicht vergessen... Barkos rief sich den Blick in Erinnerung, mit dem er eben bedacht worden war und schauderte. Verbrennendes Feuer aus dem Urgrund der Erde...
Was war in West-Waset wirklich vorgefallen, auf dem unglückseligen Ausflug seiner Tochter?
Debora schlief tief und traumlos bis gegen Mittag des nächsten Tages. Da weckte sie ein anderes junges Mädchen, wohl eines der Flüchtlingskinder, das ebenfalls hier einquartiert war. Sie hatte ein dunkles, rundes Gesicht und widerspenstige Locken standen rings um ihren Kopf ab.
„He, du, willst du nicht kommen? Kahotep spricht!“ sagte sie.
„Kahotep?“ fragte Debora müde und versuchte, die Schläfrigkeit zu verscheuchen.
„Der Erhabene Erste Diener Ptahs!“ fügte das Mädchen nun ungeduldig hinzu. „Schnell! Du musst ihn hören!“
Sie zog Debora kurzerhand auf die Füße. Während die beiden hinaus eilten, trug der Wind einige Wortfetzen zu ihnen hinüber.
„… Heilige Ordnung!... kein Hunger und kein Unrecht, wenn wir den Willen der Götter erfüllen…!“
Hochrufe antworteten.
Neugierig eilte Debora näher zu den anderen Versammelten, kletterte auf einen Stapel hier aufgeschichteter Lehmziegel und war nun endlich in der Lage, den Redner zu sehen, der die Menschen so begeisterte. Der junge Oberpriester trug den feierlichen Ornat.
„…nicht die Händler, nicht die Fremden, nicht die Libyer sind es, die Schuld sind, dass ihr von eurem Land und aus euren Häusern vertrieben seid! Euer Zorn sollte sich nicht gegen sie richten, wie es letzte Nacht schon wieder geschehen ist! Schande über die, die in solchen Gewaltakten ihr Heil suchen!“ rief er gerade. „Nicht die Fremden sind der Grund des Elends in Kemet! Nicht einmal die Steuereintreiber oder die Nubier aus der Garde! Sie führen nur Befehle aus und neigen sich wie das Schilfrohr nach der Richtung des Windes! Nein, es ist nur Einer, der seine Macht missbraucht, um Verrat zu üben an den beiden Ländern und an Pharao Ramses! Verrat an Ptah und an allen Göttern und an der Heiligen Ordnung! Amenemhat, der sogenannte Erste Diener Amuns von Ipet-Isut! Ihr alle kennt die Gerüchte, die man über ihn erzählt! Ich sage euch heute, es ist die Wahrheit!“
Das Feuer der Worte schien seinen ganzen Körper erfasst zu haben, so stark und unbezwingbar wirkte er auf einmal. Nichts um sich herum schenkte er mehr Beachtung, auch nicht den unwilligen Blicken seiner priesterlichen Amtskollegen.
„Amenemhats Treiben ruft den Zorn der Götter auf Kemet und seine Kinder herab!“
„Ja, genau“, hörte Debora neben sich eine Frau zustimmend brummen, „...bis hinauf nach Abudo habe ich es gehört! Die Große Königliche Gemahlin, pah! Nichts Besseres als eine Hure ist sie! Jeder Bauer hätte sie windelweich geprügelt, wenn sie seine Frau wäre!“
Debora schämte sich. Die Worte des jungen Oberpriesters trafen sie wie eine ganz persönliche Anklage. Nun wusste sie, was ihren Vater so aufgebracht hatte! Sie wusste, was sie getan hatte! Und - sie schämte sich. Für ihre Neugier, für die Faszination, die sie empfunden hatte, als sie Amenemhat ansah und die Phantasien, denen sie an den folgenden Tagen nachgehangen hatte…
Ihre Wangen brannten; sie fühlte sich, als ob jedermann hier sie nur anzusehen brauchte und ihre Dummheit ihr aus dem Gesicht ablesen konnte. Kahoteps Rede peitschte weiter auf ihr Gewissen. Jetzt begriff sie, oh ja! Der Herr von Ipet-Isut war so verdorben wie eine Frucht, deren Kern angefangen hatte zu faulen, und deren schöne Schale in sich zusammen fiel, sobald man sie berührte! Er war genau das, was ihr Vater immer von den Kindern Kemets behauptet hatte, zügellos, maßlos, gierig! Und sie hatte sich gewünscht, ihn wieder zu sehen…! Sie war stolz gewesen, seine Aufmerksamkeit erregt zu haben!
In diesem Moment hätte Debora buchstäblich alles dafür gegeben, wenn sie ihren Ausflug nach West-Waset hätte ungeschehen machen können. Sie fühlte sich so schlecht und schmutzig! Nicht mehr fähig, Kahoteps zornigen Worten länger zu lauschen, entfernte sie sich aus dem Kreis der Zuhörer und lief über den Hof, vorbei an den Behelfsbehausungen der Flüchtlinge. Eine Frau plagte sich dort
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