Der Skorpion von Ipet-Isut
dich ins Delta schicken? Damit ich das Gegreine nicht mehr hören muss! Ja… das könnte ich mir überlegen. Es sei denn, du überzeugst mich vom Gegenteil…“
„Nefertari.“ Seine Stimme hatte jenen feinen, knisternden Unterton, der unterdrückten Zorn verriet und eine Gereiztheit an der Grenze der Explosion. „Untersage deiner Garde derartige Eskapaden! Gerade jetzt! Ich habe heute Morgen mit dem Vorarbeiter auf den Baustellen in West-Waset gesprochen. Die Mejai haben schon wieder jemanden erwischt, wie er versuchte, in die alten Grabmäler einzubrechen. Das ist immer ein Indiz für den Grad der Verzweiflung! Auf dem Gericht gegen die Grabräuber vor zwei Wochen haben wir acht Mann zum Tode verurteilt! Einschließlich Sethnakhts Bruders, wie du dich erinnern wirst!“
„Amenemhat…?“
Er wusste genau, was dieser Blick der Königin zu bedeuten hatte. Sie streckte die Hand aus und streichelte langsam über seine Brust.
„Nun, Amenemhat? Überzeugst du mich, dich bei mir zu lassen oder...“ Ihre Hand hatte seinen Schurz erreicht und teilte den übereinander geschlagenen Stoff. „... möchtest du mich weiter mit Geschichten über die Grabräuber langweilen?“
„Nicht hier!“ zischte er mit einer Kopfbewegung in Richtung zweier Gardisten, die oben auf den Palastmauern patrouillierten. Nefertari machte keine Anstalten, ihre Vorhaben zu unterbrechen.
Amenemhat packte ihre allzu vorwitzigen Finger. „Es ist noch viel zu hell; man wird uns sehen!“
„Niemand wird WAGEN, etwas zu sehen! Was ist los mit dir? Ich sterbe vor Hunger nach dir... Oder haben dich die ewigen Grübeleien über das leidende Volk deine Männlichkeit gekostet?“
Deine Gier wird mich eines Tages viel mehr kosten, antwortete er in Gedanken und zog Nefertari wenigstens in die hinterste Ecke des kleinen Pavillons. Sie abzuweisen konnte er sich nicht leisten. Noch nicht.
Am Abend desselben Tages verließ ein seltsamer Zug den Tempel von Ipet-Isut Richtung Osten in die Wüste. Die Männer trugen lange Gewänder, verhüllte Gesichter und waren mit Stöcken bewaffnet, wie sie sonst zur Löwenjagd eingesetzt wurden. Der Hohepriester selbst saß in einer Sänfte, neben sich ein Weihrauchgefäß, dessen Inhalt allerdings noch nicht entzündet war. Das würde Amenemhat erst tun, wenn sie am Ziel angelangt waren. Er schob die dünnen Vorhänge der Sänfte zur Seite und warf einen skeptischen Blick auf den Führer, den er für diesen Zweck engagiert hatte: ein zwergenhaft kleiner Greis, der erstaunlich flink vor ihnen herlief. Die Männer aus Ipet-Isut bewegten sich auf eine einsame Felsgruppe zu, die sich schwärzlich im Gegenlicht erhob. Der Verbannungsort der Aussätzigen.
Das kurze heftige Liebesspiel mit Nefertari am Nachmittag hatte nur eine hungrige Leere in Amenemhat hinterlassen, die umso mächtiger Deboras Bild herauf beschwor. Es war etwas Einzigartiges in diesem Fremdländermädchen… Etwas Magisches. Er konnte sie einfach nicht mehr aus seinen Gedanken verbannen. Er musste wissen, ob sie hier an diesem Ort des Todes war! Es wissen und – sie retten!
In der Gesteinsformation war ein schmaler Durchgang sichtbar geworden. Die Tempeldiener setzten die Sänfte ab und der Zwerg bedeutete ihnen, ihm zu folgen. Dann kletterte er voraus. Die Bewaffneten hielten ihre Stöcke und die entzündeten Fackeln kampfbereit, während einer nach dem anderen sich durch die Öffnung zwängte. Der scharfe würzige Duft des Weihrauchs drang jetzt zu ihnen, linderte ihr Unbehagen aber keineswegs. Wenig später stand auch der Hohepriester jenseits der Felsspalte, in einer Welt, die einem Alptraum zu entstammen schien. Es war, als seien die Dämonen des Totenreichs auf Erden zurückgekehrt, um Gericht über die Lebendigen zu halten. Wesen, die kaum noch Menschliches an sich hatten, bewegten sich auf die Ankömmlinge zu, laufend, humpelnd, kriechend.
„Los, frage sie“, forderte Amenemhat und stieß den Zwerg an, der über das Geröll weiter nach unten kletterte, in den Kreis der Verstoßenen.
„Ist ein junges Mädchen bei euch mit Namen Debora? Eine Fremdländerin mit Flammenhaar?“ krächzte der Alte, aber aus den Fratzen schallten ihm nur unverständliche Laute entgegen. Einige der Kranken drängten sich dichter an die Tempeldiener heran, die entsetzt mit ihren Stöcken drohten.
Ungeduldig riss Amenemhat dem zunächst Stehenden die Fackel aus den Händen und bahnte sich einen Weg durch die Aussätzigen, wieder und wieder
Weitere Kostenlose Bücher