Der Skorpion
einer Schwester, eine Scheidung und … Plötzlich, und es kommt dir wirklich so vor«, sagte sie und schnippte mit den Fingern, »… ist er siebzehn und hat Probleme. Große Probleme.« Sie lehnte sich zurück und trank einen großen Schluck Cola.
»Aber du bereust es doch nicht, Kinder zu haben.«
»Nicht eine Sekunde lang.«
»Und du würdest es wieder tun.«
»Ohne zu überlegen.« Pescoli nickte. »Und was ist mit dir? Warum hast du keine Kinder?«
»Es hat sich einfach nie ergeben«, log Alvarez, fügte dann aber wahrheitsgemäß hinzu: »Ich habe nie den richtigen Kerl gefunden.« Das stimmte offenkundig. Die Jungen, die sie in der Schule kannte, hatten sie nicht beeindruckt, und dann war da der »Vorfall« gewesen, wie ihre Mutter es nannte, obwohl sie es beide besser wussten. Daran wollte Alvarez jetzt nicht denken, an das, was ihr mit siebzehn Jahren, in Jeremys Alter, passiert war, aber es verfolgte sie unablässig, ein Geist, der sie mit kalten Fingern im Nacken packte, eine leise Stimme in ihrem Ohr.
Du hast einen Sohn. Irgendwo. Einen Jungen, den du zuletzt gesehen hast, als er ein paar Minuten alt war …
»Suchst du denn noch?«
»Was?«
»Einen Mann. Du bist erst zweiunddreißig.«
»Drei. Ich bin dreiunddreißig.«
»Nicht eben uralt.«
»Hm, ja, aber ich habe nun mal diesen Beruf«, sagte Alvarez in dem Versuch, dem Gespräch eine leichtere Note zu verleihen. »Er ist sehr zeitaufwendig.«
»Das ist er. Und glaub mir, manchmal werden Ehemänner immens überschätzt.«
Sandi kam mit ihren Bestellungen, und sie verfielen in Schweigen, ließen das Stimmengesumm und die leise Musik die Stille überbrücken, während sie aßen.
Alvarez hatte ihren Salat fast zur Hälfte verspeist, obwohl ihr Appetit sich bei dem Gespräch über Kinder einigermaßen verflüchtigt hatte, ihre Kopfschmerzen sich zurückmeldeten und ihre Nase ständig lief. Ein Luftzug ließ sie aufblicken. Grace Perchant, in einem mittelalterlich aussehenden Kasack und langem Samtmantel, schritt langsam vom Eingang her zum Speisebereich. Sie folgte Sandi zu einem Fenstertisch, blieb dann aber unvermittelt stehen.
»Oha«, sagte Alvarez. Grace, die Frau, die Gespenster sah, mit den Toten kommunizierte und beim Spaziergang mit ihrem Wolfshund Jillian Rivers’ Subaru entdeckt hatte, stand da wie vom Donner gerührt.
Pescoli sah sich über die Schulter hinweg um. »Allmächtiger.«
Grace’ Kopf fuhr herum, und ihre blassgrünen Augen fixierten Pescoli.
»Toll«, flüsterte Regan. »Die hat uns gerade noch gefehlt.« Grace näherte sich zielstrebig ihrem Tisch.
Grace’ gewöhnlich ruhige Miene wies keine Spur von Heiterkeit auf, als sie Pescoli ihre langfingrige Hand auf die Schulter legte, bevor die Polizistin sich ihr entziehen konnte. Ein Pärchen mit zwei Kindern am Nachbartisch hörte auf zu essen und starrte zu ihnen herüber.
»Er weiß von dir«, flüsterte Grace, den Blick ihrer seltsamen Augen auf einen Punkt in einiger Entfernung gerichtet, den nur sie allein sehen konnte, dessen war Alvarez sicher.
»Wer?«, fragte Pescoli.
»Das Raubtier. Er weiß von dir.« Grace murmelte die Worte, sie waren aber doch laut genug, dass sich Alvarez’ Nackenhaare sträubten.
»Welches Raubtier?« Aber sie wusste es. Alvarez las es in ihrem Blick. Sie wussten es beide.
»Derjenige, den ihr sucht.«
»Wir suchen eine Menge Raubtiere.«
»Dieser ist anders. Dieser ist schlecht …«
»Ja, sie sind alle schlecht, Grace, aber ich vermute, du redest von dem Geisteskranken, der Frauen im eisigen Schneesturm erfrieren lässt. Meinst du den?«, wollte Pescoli wissen, doch ihr Gesicht war kreideweiß geworden, statt sich vor Zorn zu röten. »Ja, ich hoffe sogar, er weiß von mir, denn ich werde ihn kriegen.«
»Hör nicht hin, Schätzchen«, ermahnte die Frau am Nachbartisch ihren etwa zehnjährigen Sohn. Grace war unbeeindruckt. »Er hat keine Angst.«
Pescoli sah sie eindringlich an. »Als wir uns das letzte Mal gesehen haben, da hast du, glaub ich, zu Alvarez gesagt: ›Du findest ihn.‹ Was ist daraus geworden?«
Grace’ wässrig grüner Blick wanderte von Alvarez zu Pescoli zurück. »Jetzt spreche ich mit dir.« Wieder berührte sie mit den Fingerspitzen Pescolis Schulter, und wieder entzog sich Regan. »Du, Detective, bist in höchster Gefahr.«
»Das bringt der Job so mit sich, Grace«, tat Pescoli die Warnung der Frau ab. Sie hatte schon wieder etwas mehr Farbe im Gesicht.
»Sei vorsichtig.«
»Ja,
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