Der Skorpion
großzügiges Trinkgeld für mein Stück Weihnachtskirschkuchen und die Tasse Kaffee hinterlassen. Bis ich zur Tür hinaus bin, ist mein Tisch längst abgeräumt, und ein paar siebzigjährige Männer haben die Nische besetzt.
Gut.
Ich fahre bis auf zwei Häuserblocks an das Krankenhaus heran und gehe dann schnell hinein. Vor dem Eingang lungern ein paar Reporter herum, ein Kameramann raucht unter dem Vordach, aber ich komme unbemerkt an ihnen vorbei, und die Sicherheitsmaßnahmen scheinen trotz des Presserummels um diesen Fall erstaunlich lasch zu sein.
Zweifellos eine Entscheidung der Klinikverwaltung, um normale Zustände vorzutäuschen, die anderen Patienten nicht zu beunruhigen, besorgte Freunde und Verwandte zu beschwichtigen. Ich weiß bereits, auf welcher Station sie liegt; das habe ich beim Kaffeetrinken und Mittagessen in der Cafeteria aufgeschnappt. Dort trete ich jedes Mal sehr bekümmert auf, ein besorgter Gatte oder Freund. Ganz sicher hat die Überwachungskamera mein Bild aufgezeichnet, aber dank meines drogensüchtigen Kostümbildners bleibt meine Identität verborgen. Ich weiß auch, wo sich die Kameras befinden, und kann mein Gesicht vor der neugierigen Linse verbergen.
Heute suche ich den ersten Stock auf, den Westflügel. Jetzt wird es interessant. Ja, vor der Tür der Frau steht ein Wachtposten, und das Zimmer selbst ist außerdem mit dem Schwesternzimmer verbunden. Schwieriger, als ich es mir vorgestellt habe. Aber trotzdem noch einfach genug.
Ich schlendere in ein Zimmer in einem der Flure und entdecke eine alte Frau, an ein Beatmungsgerät angeschlossen, nach Luft schnappend. Ich trete näher, und während sie mich mit neugierigen, besorgten Augen anstarrt – diese Frau, unter Medikamenteneinfluss und nicht bei vollem Bewusstsein –, trenne ich sie von dem Gerät.
Bevor die Monitore reagieren können, haste ich den Flur entlang und stolpere beinahe über einen Pfleger, der einen Mann im Rollstuhl schiebt. »Entschuldigung«, knurre ich.
»Hey …«, sagt der Pfleger, als ich um die Ecke biege, und dort im Flur stoße ich auf meine Rettung. Ohne zu zögern, löse ich den Brandalarm aus.
Einen Herzschlag später schrillen Sirenen und Feueralarm wie verrückt.
»Notfall!«
»Zimmer 212 ! Mrs. Bancroft!«
Ich höre die Panik und lächele, als alle losrennen. Ich schlüpfe in eine Putzkammer, ziehe den Kittel aus, lege die Perücke ab und stürze mich wieder ins Getümmel. Im jetzt folgenden Chaos arbeite ich rasch, schlüpfe in das plötzlich unbewachte Zimmer und sehe die Frau, die fast eine Woche lang meine Gefangene gewesen war. Dieser Teil meiner Mission ist nicht das, wofür ich lebe. Das eigentliche Töten hat nur wenig Bedeutung. Ihr Vertrauen zu gewinnen, Liebe zu wecken, zu wissen, dass sie sich mir hingeben wollen und ich das Angebot aber nicht annehmen würde – das reizt mich. Der ultimative Kick ist der Anblick der Verzweiflung und Angst in ihren Augen, wenn ihnen bewusst wird, dass ich kein potenzieller Liebhaber, sondern ihr endgültiges Verhängnis bin.
Das bloße Durchtrennen der Strippe hat also keinen Reiz für mich. Aufregend ist es, andere in Panikstimmung zu versetzen, einen Tumult zu provozieren – das ist eine süße, saftige Droge, die ich mag.
Aber ich darf mich nicht lange damit aufhalten.
Ich werfe noch einen Blick auf die schwache, bewusstlos daliegende Frau und wünsche mir eine Sekunde lang, sie würde die Augen aufschlagen und mich sehen, wie ich ihr so ohne jeden Umstand das Leben nehme. Wenn ich dieses blitzartige Begreifen, dieses erste Einsetzen wahrer brutaler Angst doch noch erleben könnte. Aber es soll nicht sein. Und die Zeit läuft mir davon.
»Tut mir leid, Donna«, sage ich ohne Überzeugung, während das Beatmungsgerät Luft in ihre Lungen zwingt. »Träume süß.«
Mit einem raschen, harten Ruck ziehe ich den Stecker.
Und dann ist es vorbei.
Pescolis Miene konnte Alvarez entnehmen, dass das Gespräch ihrer Partnerin mit dem Undersheriff nicht gut gelaufen war. Regan hatte sich für den Rest des Vormittags hinter ihren Schreibtisch verkrochen, und erst Stunden später machte sie auf dem Rückweg von der Toilette vor Alvarez’ Schreibtisch halt. »Glaubst du an diesen Quatsch von wegen Orion und Jäger?«, fragte Pescoli im Zugang zu Alvarez’ Nische.
»Was Besseres haben wir nicht.«
»Und was ist mit den Buchstaben? Warum schreibt er nicht einfach ›Orion‹ oder ›Jäger‹? Wozu dieses Rätsel?«
»Weil es dem
Weitere Kostenlose Bücher