Der Skorpion
Madam.«
»Sei übervorsichtig. Er ist unerbittlich. Ein Jäger.«
Alvarez horchte auf. Jäger? Im nächsten Moment war sie aufgesprungen. »Komm, Grace, lass uns nach draußen gehen und reden.« Sie ergriff den Arm der merkwürdigen Frau und geleitete sie in den Vorraum, während alle Gäste sie anstarrten. Sie gingen an dem finster blickenden Grizzly in seinem Weihnachtsschmuck vorbei, hinein in den leeren, dunklen Festsaal. Pescoli folgte ihnen.
Außer Sichtweite der interessierten Gäste ließ Selena Grace los und sagte: »Wenn du diesen Kerl so gut kennst, dann erspar uns doch die ganze Arbeit und sag, wer er ist.«
Grace furchte die Stirn. Rieb sich den Arm, als wäre sie verletzt. »Es liegt kein Grund vor, gewalttätig zu werden. Ich wollte euch nur warnen. Dich.«
»Was hat es damit auf sich, dass er ein Jäger sein soll?«, fragte Alvarez.
»Er jagt seine Beute.« Grace zog ein gekränktes Gesicht und rieb sich immer noch den Arm, als könnte sie nicht fassen, dass die Polizistin so grob zu ihr war, nur weil sie sie ihrer Weisheit hatte teilhaftig werden lassen.
Alvarez gab nicht auf, ließ sich von diesem Blick eines waidwunden Rehs nicht beeindrucken. »Warum warnst du Pescoli, nur sie allein?«
»Als ich vor ein paar Minuten in den Speiseraum kam, hörte ich eine Stimme in meinem Kopf.«
»Und was hat die Stimme gesagt?«, fragte Alvarez mit Engelsgeduld.
»Regan Elizabeth Pescoli.«
Alvarez sah Pescoli an, die nickte und krampfhaft schlucken musste. »Du kennst meinen zweiten Vornamen?«, fragte sie.
»Erst seit wenigen Minuten.«
»Der wird allgemein bekannt sein«, hörte Alvarez sich sagen, doch Pescoli schüttelte den Kopf. »Ich benutze meinen Mädchennamen als Mittelnamen. Regan C. Pescoli. C für Connors. Nicht E für Elizabeth. Das habe ich schon in der Grundschule abgeschafft.«
Alvarez wurde kalt bis ins Herz. Hier stimmte etwas ganz und gar nicht.
Pescoli rückte näher an die alte Geisterbeschwörerin heran. »Woher kennst du meinen zweiten Namen, Grace? Hast du meine Geburtsurkunde gesehen?«
»Er ist mir eingefallen. Ich kann das nicht näher erklären. Ich weiß nur, dass du in Gefahr bist, und statt mich so grob anzufassen, solltest du mir dankbar sein.«
»Gibt’s Probleme?« Sandi trat in den dunklen Festsaal, und ihr verkniffener Mund sprach Bände. »Mein Lokal ist voller Gäste, die nach der Kirche zu Mittag essen wollen, und da kommt ihr her und macht eine Szene.« Sie zog die Brauen hoch und dehnte die grünen Augenlider. »Das Lokal mag ja Wild Wills heißen, aber es ist eine Art Familienrestaurant. Verhaftungen und Polizei-Allüren haben hier nichts zu suchen.«
»Schon gut, Sandi«, sagte Grace mit ihrer gewohnten Ruhe. »Ich wollte die Detectives nur warnen.«
»Warnen?«
»Wir haben alles unter Kontrolle«, versicherte Alvarez, verließ vor Sandi den Festsaal und ging zur Kasse. »Was sind wir schuldig?«
»Augenblick. Ich mache die Rechnung fertig!« Flink wie eine Katze suchte Sandi die Bons zusammen, addierte die Posten und nannte Alvarez die Summe.
»Ich darf doch jetzt gehen?«, fragte Grace, an Pescoli gewandt. »Wohin du willst«, sagte Pescoli. Grace bedachte sie mit einem sonderbaren Blick und ging zurück in den Speisebereich. Falls sie die interessierten Blicke bemerkte, die ihr folgten, zeigte sie es nicht. Auf dem Weg zu ihrem Tisch stockte ihr Schritt nicht ein einziges Mal.
Alvarez holte ihre Jacken und kehrte zurück zu Pescoli. »Du schuldest mir einen Zehner«, sagte sie, während sie in ihre Daunenjacke schlüpfte.
»Ich zahle das nächste Mal.«
»Verlass dich drauf.«
Gemeinsam gingen sie nach draußen. Der Wind fegte über die Straße und brachte den Geruch des Flusses mit. Alvarez zog ihre Handschuhe an. Sie sah, dass bereits wieder Wolken aufzogen. Ihr fröstelte, genauso wegen der Szene mit Grace Perchant wie wegen des Windes, der Haarsträhnen aus ihrem Nackenknoten löste.
Wie auf Kommando überquerten sie und Pescoli gleichzeitig verkehrswidrig die Straße zum Jeep. Die Temperaturen sanken offenbar schon wieder.
»Gut, dass du Grace nicht deinen Tee über das Kleid geschüttet hast«, sagte Pescoli, als wollte sie die Spannung auflockern. »
Das
wäre erst eine Szene gewesen!« Sie entriegelte den Jeep und stieg ein.
»Sandi hätte einen Herzinfarkt gekriegt.« Alvarez nahm wieder auf dem Beifahrersitz Platz und rieb sich die Hände, um sie ein wenig aufzuwärmen. »Was hältst du von ihrem Gefasel?«
Nach einem
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