Der Skorpion
Kerl genau darum geht«, sagte Alvarez. Sie hatte ein paar Stunden Telefondienst geleistet, all ihre Notizen zu jedem Tatort und die Autopsieberichte durchgearbeitet und mit mehreren Familienmitgliedern der Opfer gesprochen, die in der Hoffnung, dass der Fall gelöst wäre, angerufen hatten und die Polizei drängten, das Monster, das die Gegend terrorisierte und ihre Tochter oder Schwester oder Nichte umgebracht hatte, endlich zu verhaften.
»Lass uns was essen gehen«, sagte Pescoli mit einem Seitenblick auf Brewsters Büro. Seit der Vormittagskonferenz war im Revier Ruhe eingekehrt, und während die Streifenpolizisten patrouillierten, waren einige von den Detectives lieber nach Hause gegangen, statt sich zu noch mehr Überstunden heranziehen zu lassen. Die Agenten Chandler und Halden hatten vor einer Stunde das Haus verlassen, doch der Sheriff und sein Hund hockten noch in seinem Büro, und auch Brewster verzichtete auf Kirchenpflichten und Familienleben, um am Puls der Ermittlungen zu bleiben.
»Gute Idee.«
Alvarez schnappte sich Jacke und Waffe und folgte ihrer Partnerin nach draußen. Wortlos stieg sie auf der Beifahrerseite des Jeeps ein. Pescoli startete den Motor und hatte schon den Gang eingelegt, bevor Alvarez die Tür schließen konnte.
»Bist du in Eile?«, fragte Selena.
»Da drinnen herrscht dicke Luft.« Pescoli warf im Rückspiegel einen Blick auf das Gebäude.
»Dicke Luft ist doch immer.«
»Tja.«
»Ich schätze, dein Gespräch mit Brewster war nicht angenehm.«
»Kommt drauf an. Ob du ziemlich übel meinst oder ganz übel. Such es dir aus. Zu Wild Wills?«
Alvarez brummte zustimmend.
Pescoli fuhr zu dem Restaurant, stellte den Wagen am Straßenrand ab, und gemeinsam betraten sie das Lokal, vorbei an Grizz, dem toten Bären, in seiner Engelsverkleidung, mit gefletschten Zähnen und ausgestreckten Krallen trotz Flügelchen und Heiligenschein. »Ist das zu fassen?«, fragte Pescoli, ging jedoch weiter zum Speisebereich, wo die Kirchgänger sich nach dem Gottesdienst versammelt hatten. Sie fanden einen Tisch ziemlich weit hinten, zogen ihre Jacken aus, und Alvarez setzte sich so, dass sie den Eingang im Auge hatte. Aus den Lautsprechern trällerte eine Frauenstimme »Silver Bells«.
»Ist das Dolly Parton?«, fragte Pescoli.
»Nein.«
»Whitney Houston?«
»Nein«, versicherte Alvarez ihrer Partnerin, während die Melodie im Rasseln eines Geschirrwagens unterging.
»Bist du sicher?«
»Absolut.«
»Ist auch egal. Ich habe für dieses Jahr genug von Glöckchenklang, frohe Weihnachten und Engelsbotschaften.«
»Ach Quatsch«, sagte Alvarez. Kaffeeduft mischte sich mit Zimtaroma und dem würzigen Geruch von gebratenem Speck. Alvarez’ Magen knurrte, und ihr wurde bewusst, wie hungrig sie war.
»Weißt du, ein Bier würde mir jetzt guttun. Oder vielleicht ein Schuss Jack Daniels auf Eis.« Pescoli sah müde aus. Ihre Augen waren rot und dunkel gerändert, ein Zeichen von zu vielen schlaflosen Nächten.
Alvarez winkte, doch als Sandi kam, hatte Pescoli es sich anders überlegt und bestellte eine Cola light, einen Hamburger und Fritten. »Leb doch mal ein bisschen«, riet sie Alvarez.
»Ich möchte lieber ein bisschen
länger
leben«, antwortete Alvarez und bestellte sich einen Salat aus Spinat, Apfel und Haselnüssen mit Brathähnchen anstelle von Speck und heißen Tee mit Zitrone anstelle von Alkohol.
»Kämpfst du immer noch mit deiner Erkältung?«, fragte Pescoli.
»Das wird schon.«
»Whiskey könnte helfen.«
»Kann nicht schaden.« Doch Selena blieb bei Tee und gab noch zusätzliche Zitronenspalten hinein, als Sandi die Getränke servierte.
Pescoli seufzte. »Weißt du, da wirst du schwanger und kommst mit einem Baby nach Hause, mit diesem kostbaren, unschuldigen bisschen Leben, dessen Zukunft in deinen Händen liegt, und du denkst: ›Ich will alles richtig machen mit diesem Kind. Ich werde die beste Mutter aller Zeiten sein, und sein Leben soll sich perfekt gestalten. Dafür werde ich sorgen.‹ Er ist klein und süß und wissbegierig und verrückt nach dir und …« Sie schüttelte bekümmert den Kopf. »Und dann bricht das Leben über den Kleinen herein. Kleine Dinge wie aufgeschürfte Knie und Splitter und vergessene Hausaufgaben. Dann größere Dinge wie Prügeleien auf dem Spielplatz und Hänseleien, weil seine Mutter bei der Polizei ist, und dann die wirklich großen Dinge wie der Verlust des Vaters und die plötzliche Konfrontation mit einem Stiefvater und
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