Der Skorpion
heiser und schwach.
Wohin hatte sie in dieser Unwetternacht fahren wollen? Was suchte sie überhaupt in diesen Bergen? Und warum war sie allein?
Bei dem Gedanken erstarrte sie.
Vielleicht war sie nicht allein losgefahren. Vielleicht war jemand bei ihr gewesen! Sie blickte zur Seite, doch der Beifahrersitz war leer. Ohne auf die Schmerzen zu achten, drehte sie den Hals und spähte in den zerrissenen, zerbeulten Raum, wo sich der Rücksitz befand. Stoff war gerissen, Polsterung quoll heraus, ihr Koffer war zwischen dem Vordersitz und den Resten der Rückbank eingeklemmt. Doch nichts wies darauf hin, dass noch jemand in dem Haufen aus verbogenem Metall, Plastik und Glasscherben steckte. Kein blutverschmierter Arm erhob sich aus den zerfetzten Polstern, kein schreckverzerrtes Gesicht eines Toten starrte sie aus glasigen Augen an.
Zitternd zerrte sie an einer Steppdecke, die sie immer im Auto mitführte, aber die Decke hatte sich in den übereinandergeschobenen Metall- und Plastikteilen verfangen. Die Schmerzen in ihrem Brustkorb waren unerträglich, doch sie gab nicht auf. »Komm schon, komm schon«, flüsterte sie und riss und zerrte an dem alten Quilt, den ihre Großmutter vor fünfzig Jahren gefertigt hatte. Sie hörte den Stoff reißen, die alten Nähte nachgeben, doch es gelang ihr, den größten Teil frei zu bekommen und sich hineinzuwickeln, während ihr verflixter Knöchel pochte, ihr Kopf schmerzte und die Schnittwunden im Gesicht brannten.
Wieder rief sie um Hilfe und drückte auf die Hupe. Immer wieder betätigte sie die Hupe, schrie und gab sich der aussichtslosen Hoffnung hin, dass jemand sie hörte.
Was hatte sie nur vorgehabt, dass sie in dieser Gegend mit ihren anscheinend hohen Bergen voller scharfer Kämme und steil abfallenden Schluchten unterwegs gewesen war? Und wo lag dieses Gebirge überhaupt? War es die Cascade Range im westlichen Washington? Die kanadischen Rockies? Die Tetons? Oder sonst irgendeine zerklüftete Bergkette?
Montana,
dachte sie dumpf.
Du warst auf dem Weg nach Montana.
Bestimmt würde sie jemand bald vermissen, wenn sie ihr Ziel nicht erreichte, wo immer in Montana es auch liegen mochte. Und dann würde natürlich ein Suchtrupp ausgeschickt werden.
Es sei denn, dieser Ausflug ist heimlich geschehen. Streng geheim.
Sie hatte das unbehagliche Gefühl, dass niemand wusste, wo sie sich aufhielt, obwohl sie sich noch nicht einmal an ihr Ziel erinnerte. Es hatte irgendwie mit Montana und ihrem Ex-Mann zu tun und war geheim … Was war es nur? Wenn sie sich doch bloß erinnern würde.
»Ach, um Gottes willen«, flüsterte sie, schüttelte den Kopf und verzog vor Schmerzen das Gesicht. Sie konnte sich auch nicht an alles, was sie selbst betraf, erinnern, wusste jedoch sicher, dass sie keine Spionin war und sich äußerst selten die Mühe gab, irgendetwas zu vertuschen.
Und doch …
Eine entsetzliche Angst davor, völlig allein zu sein, legte sich wie eine Klammer um ihr Herz.
»Gar nicht daran denken«, ermahnte sie sich. Irgendwer würde sie irgendwo vermissen, nach ihr suchen. Es war nur eine Frage der Zeit, wann sie gefunden wurde. Sie musste nur so lange am Leben bleiben, bis Rettung kam.
Sie hob den dröhnenden Kopf und hielt Ausschau nach der Straße, die hoch über ihr verlaufen musste. Alles, was sie sah, war eine steile Mauer aus Eis und Schnee. Ein paar Bäume wuchsen in dieser Schlucht, wenige ahnungsvolle schneebedeckte Wachtposten, mehr nicht. Offenbar war das Auto die steile Böschung heruntergerutscht und in einem, wie es aussah, zugefrorenen Bachbett gelandet. War sie ins Schleudern geraten, als sie einem anderen Fahrzeug ausweichen musste? Einem Reh? Einem Fußgänger? Oder hatte sie einfach eine Kurve zu schnell genommen, war auf Eis geraten und dann in den Abgrund gestürzt?
Sosehr sie sich auch anstrengte, sie konnte sich nicht erinnern. Ja, gelegentlich tauchten flüchtige Gedanken auf, wie sie ihre Sachen ins Auto packte, überstürzt von Seattle aus, wo sie wohnte, eine Fahrt plante … eine lange Fahrt. Sie erinnerte sich knapp daran, eine Straßenkarte konsultiert zu haben und nach Osten gefahren zu sein, heraus aus dem Verkehrschaos im U-District, fort von ihrem Reihenhaus nicht weit vom Campus der Universität von Washington. Sie hatte ihren Subaru über die Evergreen-Point-Floating-Bridge gesteuert, die eine schmale Stelle des Lake Washington überspannte, und war dann auf der Autobahn vorbei an Bellevue und weiter nach Osten gefahren …
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