Der Skorpion
und frisch. Auf dem Hochglanzfoto sieht sie glücklich aus, wenngleich ihr Lächeln natürlich eine schwache Fassade ist. Sie wirkt beinahe kokett.
Eine Lüge.
Wenn ich tief in ihre Augen blicke, entdecke ich einen Schatten, eine kleine Spur von Dunkelheit, die ihre Angst verrät.
In dem zerbrechlichen Augenblick, als die Kamera ihr Bild einfing, spürte sie, dass ihr Leben keineswegs so war, wie es schien.
Und doch konnte sie unmöglich die Wahrheit begreifen, weder damals noch jetzt. Was weiß sie schon von dem, was geschehen wird: dass ihr Schicksal bereits besiegelt ist, dass sie sich bald zu den anderen gesellt …
Sorgfältig lese ich noch einmal die Karten. Die Sterne stehen günstig, die Grundlage habe ich geschaffen, und bald ist der Dezember da mit seinem kalten, grimmigen Kuss.
Und bald ist sie da.
Sie wird kommen, bevor noch im Kalender ein neues Blatt aufgeschlagen wird.
Ich schließe die Augen und stelle mir unser Zusammentreffen vor: Ihr kaltes Fleisch presst sich an meines. Ihre Haut wird den salzigen Geschmack von Angst haben, besonders ihre Wangen mit den Tränenspuren. Ein erwartungsvoller Wonneschauer durchrieselt mich. Ich senke den Blick wieder auf das Foto.
So klar.
So scharf.
So bereit.
»Bald«, flüstere ich, spreche ihren Namen nicht laut aus, will ihn nicht von den Dachsparren widerhallen hören.
Meine Lenden spannen sich voller Erwartung.
Winter und Tod sind im Begriff, einander zu begegnen.
Jillian trat aufs Gas.
Ihr kleiner Subaru reagierte mit aufheulendem Motor, die Winterreifen drehten auf dem eisigen Boden durch. Sie nahm einen Schluck aus ihrem Becher, sich rasch abkühlenden Kaffee, den sie in der letzten Stadt, die sie durchfuhr und die jetzt bereits fünf Meilen hinter ihr lag, gekauft hatte. Spruce Creek, die Stadt, sofern man sie als solche bezeichnen wollte, war kaum mehr als eine Ampel an einer Kreuzung mit einem Postamt, einer Tankstelle, einem Café, zwei Kirchen und als perfekte Gegenstücke zwei Kneipen. Ein paar Bauernhöfe lagen weit verstreut in der schneebedeckten Landschaft.
»Willkommen im ländlichen Montana«, sagte sie laut und fragte sich nicht zum ersten Mal, ob sie den Weg nicht eigentlich umsonst zurücklegte. Im Radio lief ein Country-&-Western-Sender, und Willie Nelson sang unter statischem Knistern ausgerechnet »White Christmas«. »I’m dreaming of a white Christmas«, trällerte er mit nasaler Stimme.
»Sollst du haben, Willie-Boy«, sagte Jillian und blickte durch die Windschutzscheibe, die zu beschlagen drohte, hinaus in weites Land mit schneebedeckten Bäumen und hohen Schneeverwehungen. »Du kriegst wirklich sehr weiße Weihnachten.«
Um sie herum ragten Berge auf, die Gipfel in dichten Wolken und Schneetreiben verborgen. Hier, in den Bitterroot Mountains, schien eine zweite Eiszeit angebrochen zu sein.
Die Straße schlängelte sich immer höher hinauf, und ihr kleines Auto kletterte brav voran, während die Scheibenwischer die Schneeflocken wegfegten. Ein Reifen rutschte, bevor er griff. Jillian fing die Schleuderbewegung ab, wobei ihr Kaffee überschwappte, und der Allradantrieb des Wagens ließ sie nicht im Stich. Trotzdem war sie nervös geworden und fragte sich, wie weit es noch bis zur nächsten Stadt sein mochte.
Dieser gebirgige Teil von Montana war einsamer, als sie gedacht hatte, und wenn sie auch kein Angsthase und alles andere als zögerlich war, fühlte sie sich an diesem Tag leicht kribbelig, als die Dämmerung einsetzte und ihr nicht ein einziges Fahrzeug auf der Straße begegnete.
»Zu viel Koffein«, sagte sie leise zu sich selbst, als Willies Lied verklang und der Moderator das Wort ergriff. Entnervt schaltete sie das Radio aus und dachte an die Anrufe von demjenigen mit unterdrückter Nummer und an die Fotos, die er oder sie ihr geschickt hatte.
Waren es wirklich Fotos von Aaron?
Oder handelte es sich um einen ausgeklügelten Schwindel?
»Sieh den Tatsachen ins Gesicht, was du tust, ist sinnlos«, sagte sie sich zum zigsten Mal, doch ihre Hände umfassten das Steuer fester bei dem Gedanken an die Flüsterstimme, die ihr versichert hatte: »Er lebt.«
Sie schimpfte vor sich hin, während der Motor des Subaru mit der Steigung kämpfte. Dem Spinner in der Leitung glaubte sie eigentlich nicht, und die Fotos konnten weiß Gott manipuliert sein, aber sie fand erst Ruhe, wenn alle Zweifel ausgeräumt waren. Und wenn es nur ein perverser Scherz war? Dann konnte sie zumindest Aarons Andenken begraben.
Sie
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