Der Skorpion
bitterkalten Luftzug hinweg eine Männerstimme zu hören. »Nicht sterben! Haben Sie gehört? Bitte, sterben Sie mir nicht unter den Händen weg.«
Sie spürte den eisigen Wind und den Ruck, als jemand sie anfasste, ihren Hals abtastete, als suchte er nach dem Puls, über sie hinweggriff …
Doch sie brachte es nicht fertig, die Augen aufzuschlagen, und während der nächsten paar Stunden – oder noch länger? – war sie mal bei Bewusstsein, mal nicht und hörte wie durch einen langen, dunklen Tunnel, dass er sie anschrie. Sie ließ sich ins Dunkle fallen, bis eine Bewegung oder ein Geräusch sie aufschreckte und zurückholte, nur um dann wieder wegzudämmern. Nur verschwommen nahm sie Motorengeräusch und Bewegung wahr, und ihr war, als würde sie gleiten, durchs Universum schweben, während um sie herum Sterne herabschossen … Ihr Knöchel und ihre Rippen schmerzten noch immer, was vermutlich ein gutes Zeichen war, doch die Taubheit, die von ihrer Haut Besitz ergriffen hatte, gab ihr das Gefühl zu träumen, schwerelos zu schweben.
»Gib bloß nicht auf«, sagte er immer wieder über das Summen irgendeines Motors hinweg, und seine Stimme erschien ihr körperlos, von weither kommend. »Wer immer du bist, bleib am Leben.«
Der Anruf im Büro des Sheriffs erfolgte zwei Tage später, nach einem Wetterumbruch. Ein weiteres Fahrzeug war gefunden worden, ein Wrack, verlassen und eingeschneit.
Selena Alvarez saß an ihrem Schreibtisch, als die Zentrale den Fundort des Fahrzeugs durchgab, und daher war sie eine der Ersten vor Ort. Mit Johnson und Slatkin fuhr sie im Kleinbus des Kriminallabors über eine gesperrte Zubringerstraße hinunter in eine Schlucht, wo der Schnee beinahe einen halben Meter hoch lag.
»Hey, Alvarez, hier drüben!« Deputy Pete Watersheds Stimme hallte durch die einsame Schlucht.
Sie hockte gerade neben dem Vorderrad des schneebedeckten Autowracks und hob jetzt den Kopf. Der Subaru war aufgrund der zersplitterten Windschutzscheibe, der zerbeulten Karosserie und des verzogenen Rahmens kaum als solcher zu erkennen.
Sie schaltete ihr Diktiergerät aus. »Momentchen noch«, rief sie über die Schulter hinweg und wandte sich wieder dem rechten Vorderreifen des Wagens zu.
Das Wrack war bereits aus jedem erdenklichen Blickwinkel fotografiert worden, deshalb wischte sie den Schnee fort und betrachtete das Loch in dem Winterreifen.
Identisch mit den anderen.
Zweifelsfrei von einer aus großer Distanz abgefeuerten Gewehrkugel.
»Scheiße«, knurrte sie, wenngleich es sie im Grunde nicht überraschte. In zwei Monaten hatte sie bereits genauso viele vergleichbare Tatorte besichtigt. Die rechten Vorderreifen der auf Theresa Kelper und Nina Salvadore zugelassenen Fahrzeuge waren wie dieses von einem leistungsstarken Gewehr zerschossen worden, woraufhin die Autos von einem hohen Felsen stürzten und zerbeult und schrottreif am Fuß des Berges aufschlugen. Nach Mandy Itos weißem Prius mit Wunschkennzeichen wurde zwar noch gesucht, aber dieses Fahrzeug hatte der Toten nicht gehört.
Diese Erkenntnis sprach Alvarez jetzt auf Band, die schnellste Möglichkeit, sich in dieser Eiseskälte Notizen zu machen, dann schaltete sie das Gerät aus, richtete sich auf und schaute sich in der verschneiten Schlucht um.
An diesem Tag war die ansonsten menschenleere Gegend völlig verändert: Detectives, Deputys und Forensiker arbeiteten Hand in Hand mit der besten Ausrüstung, die Pinewood County und der Bundesstaat Montana zu bieten hatten, und hofften, irgendein klitzekleines Beweisstück zu finden, das sie zu dem für drei, möglicherweise inzwischen vier brutale Morde verantwortlichen Killer führte.
Wie bei den vorangegangenen Autounfällen fehlten der Fahrzeugführer und sämtliche Hinweise auf seine Identität. Der Mörder hatte die Kennzeichen der betroffenen Autos nicht angerührt, aber das war keine große Hilfe, da der Fahrzeugbesitzer auch mit Hilfe der Fahrzeugnummer ausfindig gemacht werden konnte. Abgesehen davon blieben in allen Fällen nur Wracks übrig, die einmal Autos gewesen waren, Schleuderspuren oben auf der Straße und ein paar geknickte Bäume und Äste, die das jeweilige Fahrzeug auf seinem Sturz in eine Schlucht tief in den Bitterroot Mountains gestreift hatte.
Bisher war ausnahmslos der rechte Vorderreifen zerschossen worden, und Alvarez hätte ihr Psychologiediplom darauf verwettet, dass sich im Verlauf der Ermittlungen die gleiche Ursache für diesen jüngsten geplatzten
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