Der Skorpion
Portemonnaie oder Handtasche?«
Alvarez nickte. Schneeflocken stoben vom stahlgrauen Himmel herab. »Genau wie in den vorherigen Fällen.«
»Aber keine Leiche?«
»Noch nicht.« Alvarez führte Pescoli um das Wrack des silberfarbenen Subaru herum und setzte sie über die bisherigen Erkenntnisse ins Bild. Sie musste schreien, denn der Wind heulte jetzt wieder durch die Schlucht, fegte durch die Bäume, ließ kahle Äste klappern und blies scharfe kleine Schneekristalle in Alvarez’ Gesicht.
»Ja, genau wie in den vorigen Fällen«, bemerkte Pescoli, die vollen Lippen mürrisch verzogen. »Was will der Mann nur?«
Eine offene Frage.
Pescoli blinzelte zum Bergkamm hinauf und vermutete, dass dieses Fahrzeug, wie die anderen auch, von der Straße geschleudert und den Abhang hinuntergestürzt war, um dann in dem eingefrorenen Bachbett auf dem Grund der Schlucht zu landen.
Alvarez folgte ihrem Blick und wusste, was ihre Partnerin dachte. Es grenzte an ein Wunder, dass jemand diesen Unfall überlebt hatte.
Andererseits wussten sie ja gar nicht mit Sicherheit, ob jemand überlebt hatte. Nur, dass der Fahrer verschleppt worden war.
»Wissen wir, wann es passiert ist?«, fragte Pescoli.
Alvarez zupfte ihre Handschuhe zurecht. »Es könnte schon gestern Nachmittag gewesen sein, der Schneedecke nach zu urteilen.«
»Dann lebt das Opfer vermutlich noch.« Pescoli sah sich in der öden Schlucht mit den steilen vereisten Felswänden um. »Der Dreckskerl versorgt sie, pflegt sie gesund wie so eine Florence Nightingale, bindet sie dann an einen Baum und lässt sie erfrieren. Perverses Schwein.«
Amen.
»Wer hat das Fahrzeug gefunden und gemeldet?«, wollte Pescoli wissen.
Unter dem Schirm seiner Wollmütze verzog Pete Watershed das Gesicht.
Pescoli wollte nicht geschont werden. »Sagen Sie schon.«
»Grace Perchant. Als sie ihren Hund Gassi führte.«
»Gassi führte? Bei Temperaturen weit unter dem Gefrierpunkt? Hier unten? Warum zum Geier macht sie das?«
»Warum macht Grace so einiges?«, fragte Watershed mit einem Schulterzucken.
Gute Frage.
Grace Perchant war ein weiteres Unikum der Stadt. Alvarez erinnerte ihre Partnerin: »Grace behauptet auch, Geister zu sehen und mit den Toten sprechen zu können. Und ihr Hund, der ist ein halber Wolf.«
»Drei Viertel«, mischte Mikhail sich ein und sah mit einem wissenden Lächeln zu ihnen auf.
»Woher wissen Sie das denn?« Alvarez war sich nicht sicher, ob sie die Antwort wirklich hören wollte.
»Ich bin an einem Welpen interessiert.«
»Aber Sie wissen doch, dass Grace’ Hund praktisch ein wildes Tier ist! Vermutlich hat nicht sie ihn ausgeführt, sondern umgekehrt.«
»Sie hat recht«, bemerkte Pescoli. »Bei uns sind schon mehr als nur eine Beschwerde über den Wolfshund eingegangen.«
»Hat er denn jemanden gebissen?«
»Nein. Geheult. Hat die Nachbarn nicht schlafen lassen.« Pescoli schob sich eine lose Haarsträhne zurück unter die Mütze.
»Das ist doch lächerlich«, fuhr Alvarez dazwischen. »Also, wenn der Hund sich erleichtern muss, warum lässt sie ihn dann nicht einfach raus? Warum geht sie in einem Schneesturm spazieren?«
»Grace ist halt so«, sagte Watershed, als ob das alles erklären würde.
Pescoli, ratlos, mit vor Kälte geröteten Wangen, ließ den Blick langsam über den verschneiten Tatort schweifen. »Verflixt noch mal, wohin hat er sie gebracht?«
Selena Alvarez schüttelte den Kopf. Tief im Inneren verspürte sie eiskaltes Grauen. Sie wusste, dass die Frau, die diesen Wagen gesteuert hatte, längst zum Tode verurteilt war und dass sie sie irgendwann finden würden, so, wie sie all die anderen gefunden hatten. Im Jaulen des Windes und dem Fauchen des Schneesturms, der über diese Bergkette hinwegraste, gingen sie und Alvarez zurück zu der Stelle, wo Slatkin das gefrorene Blut aufsammelte und eintütete. »Vielleicht haben wir Glück, und der Kerl hat sich verletzt. Es könnte Blut von ihm sein.«
»Verlassen wir uns lieber nicht auf unser Glück.« Eine weitere Männerstimme mischte sich ein, und Alvarez sah mit einem Blick über die Schulter hinweg den Sheriff über den Wirtschaftsweg auf sie zukommen. In seinen großen Stiefeln stapfte er knirschend durch den Schnee, und seine Miene verriet so einiges: unterdrückten Zorn und vielleicht auch eine Spur Resignation. Der Wind heulte so laut, dass sie den Mann nicht einmal kommen gehört hatte.
Alvarez nickte. »Recht haben Sie; das tun wir lieber nicht.«
»Ein bisschen
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