Der Skorpion
aufgefrischt hatte und dass dicke brodelnde Wolken am Himmel auf ein weiteres Unwetter hindeuteten.
»Das fehlt uns gerade noch«, dachte sie laut. Ein heftiger Windstoß trieb Reste von trockenem Laub über den Parkplatz und ließ es übers schneebedeckte Land tanzen und wirbeln.
Als sie zu ihrem Wagen ging, hatte sie das Gefühl, beobachtet zu werden. Sie blickte über die Schulter zurück, konnte aber niemanden entdecken.
»Alles nur Einbildung«, sagte sie sich. Doch als sie sich hinters Steuer setzte, spürte sie es wieder, diese scharfe, deutliche Vorahnung von Tod.
Von ihrem Tod?
Oder dem eines weiteren bedauernswerten Opfers, nackt an einen Baum gebunden, das verzweifelt auf Rettung hoffte, aber mit der wachsenden Gewissheit, zum Tode verurteilt zu sein?
»Gott steh uns bei«, flüsterte Alvarez und schlug zum ersten Mal seit ihrem vierzehnten Geburtstag inbrünstig das Kreuzzeichen über der Brust.
Bamm! Bamm! Bamm!
Jillian versuchte, die Augen zu öffnen.
Es war so kalt. Und so dunkel.
Ein ohrenbetäubendes Ächzen hallte in ihrem Kopf nach.
Wo bin ich?
»Hey! Lady! Aufwachen!«, befahl eine tiefe, besorgte Männerstimme. »Helfen Sie mir doch!«
Was?
Sie versuchte, zu sich zu kommen, und spürte das Pochen in ihrem Knöchel.
Was um alles in der Welt? Träume ich?
Blitzartig erinnerte sie sich daran, wie sie in dem schrottreifen Subaru aufgewacht war. Im Auto eingeklemmt, hatte sie auf Hilfe gehofft, die Nähe von etwas Bösem gespürt, und dann musste sie wohl bewusstlos geworden sein …
Ihr Herz begann zu rasen, sie spähte hinaus in die Dunkelheit. Sie hielt immer noch die Glasscherbe in der inzwischen beinahe froststarren Faust.
War dieser Mensch, der gerade die Wagentür aufzustemmen versuchte, derselbe, den sie durch den verschneiten Wald huschen gesehen hatte? Der, den sie für die Verkörperung des Bösen gehalten hatte?
»Hey? Alles in Ordnung?«, brüllte ihr vermutlicher Retter.
War er nicht ganz bei Trost? Natürlich war nichts in Ordnung. Sah sie etwa so aus?
»Können Sie gegen die Tür drücken?«
Tja, schön wär’s.
Dann erhaschte sie im dichten Schneegestöber einen Blick auf ihn. Skimütze und –brille, ganz in Schwarz, verbargen sein Gesicht und ließen ihn eher außerirdisch als menschlich erscheinen. Er trug eine dicke Skijacke, doch sie entdeckte keinerlei Abzeichen darauf, die auf Polizei, Forstamt oder sonst eine Behörde schließen ließen …
»Hey!« Er streckte die Hand durch die zersplitterte Scheibe und rüttelte Jillian an der Schulter. »Aufwachen!«
»Ich … ich bin wach!«, versuchte sie zu rufen, brachte aber nur ein schwaches Flüstern zustande.
»Können Sie sich bewegen?«, schrie er so laut, dass sie mit einem schmerzhaften Ruck zusammenfuhr.
Lieber Gott, war sie wieder bewusstlos geworden?
Sie wollte antworten, doch es gelang ihr nicht. Mit aller Macht versuchte sie, die Augen offen zu halten.
Sollte sie ihm vertrauen?
Hatte sie denn eine Wahl?
»Ich kann Sie hier nicht herausziehen … Das Dach ist eingedrückt. Ich versuche, die Tür aufzustemmen.«
Ihre Zähne schlugen wieder aufeinander.
Ihre Augen waren so schwer. So furchtbar schwer.
»Hey! Lady! Wach bleiben! Ach du liebe Zeit! Los, bleiben Sie wach! Wie heißen Sie?«
Sie blinzelte. War sie wieder eingeschlafen? Bewusstlos geworden?
Er hielt etwas in der Hand, eine Brechstange, überlegte sie verschwommen … wie die in ihrem Kofferraum. Wenn sie doch schlafen könnte, nur ein paar Minuten lang … fünf oder zehn … mehr brauchte sie nicht.
Sie hörte ein tiefes, gequältes Ächzen. Metall, das sich verbog und Widerstand leistete, als der Mann die Fahrertür mit der Brechstange bearbeitete. Aus den Augenwinkeln sah sie, wie er die Hebelwirkung zu nutzen versuchte, sein ganzes Gewicht zum Einsatz brachte. Er schnaufte vor Anstrengung. »Komm schon«, stieß er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Metall kreischte. Gab nicht nach. Das eingefrorene Schloss knackte, sprang aber nicht auf. »Los, los, mach schon«, schimpfte der Mann und stemmte sich mit aller Kraft gegen die Brechstange.
Sie hätte Angst haben sollen.
Doch sie hatte nur noch einen Wunsch: Wieder in die warme, weiche Wolke der Bewusstlosigkeit zurückzusinken.
»Wach bleiben!«, befahl er.
Sie dämmerte hinüber …
Schnapp!
Etwas ist zerbrochen, dachte sie, wusste aber nicht, was. Es war ihr auch egal.
Metall kreischte, und sie glaubte, irgendwo weit entfernt über den
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