Der Skorpion
Glück würde nicht schaden«, bemerkte Pescoli. »Ich persönlich nehme, was ich kriegen kann.«
Der Hauch eines Lächelns huschte über Graysons Gesicht. »Ganz recht.« Grayson, ein großer, bärenstarker Mann mit dichtem, ergrauendem Schnurrbart und dunklen, tiefliegenden Augen, war kürzlich gewählt und kürzlich geschieden worden – beides ging, wie es schien, Hand in Hand. So wirkte es zumindest auf Alvarez. »Sagen Sie bitte nicht, dass Ivor Hicks diesen Unfall gemeldet hat.«
»Dieses Mal nicht«, beruhigte ihn Alvarez.
»Nein.« Pescoli schob die Hände tiefer in die Jackentaschen. »Dieses Mal ist Grace Perchant unsere Zeugin.«
»Ach du liebe Zeit. Noch so eine Irre.« Grayson furchte die Stirn. »Zuerst Ivor, dann Grace. Als Nächstes kriegen wir dann wohl Hinweise von Henry Johansen.«
Zwar behauptete Henry, ein ortsansässiger Bauer, nicht wie Ivor Hicks, dass er von Aliens entführt worden wäre, und er kommunizierte auch nicht mit den Toten, was Grace’ Spezialität war, aber er war vor zwanzig Jahren vom Traktor gestürzt und hatte eine Verletzung erlitten, aufgrund derer er, wie er behauptete, Gedanken lesen konnte. Dieses Phänomen hatte er zwar noch nie wirklich unter Beweis gestellt, doch Henry war fest davon überzeugt, dass die Stimmen, die er hörte, willkürliche Gedanken von Leuten aus seinem Umfeld waren. Er war ein regelmäßiger Gast im Büro des Sheriffs, immer mit der Behauptung, er habe Insiderwissen über irgendein in der Stadt verübtes Verbrechen.
»Gott steh uns bei«, sagte Watershed.
Als Grayson den Tatort überblickte, wurde seine Miene nur noch grimmiger. »Wir sollten hier möglichst schnell einpacken. Der Wetterdienst warnt vor einem weiteren Schneesturm. Einem gewaltigen.«
Alvarez verließ der Mut. Die Chancen, die Fahrzeugführerin zu finden, waren ohnehin nicht groß; kam noch ein Schneesturm hinzu, waren sie praktisch gleich null.
Grayson betrachtete finster den eingeschneiten Wagen, und die Falten um seinen Mund wurden noch schärfer. »Sieht so aus, als hätte er wieder zugeschlagen.«
»Sieht so aus«, pflichtete Pescoli ihm bei.
»Scheiße.« Dan hob den Blick zu den Berggipfeln, und Schneeflocken fingen sich in seinem Schnurrbart. Er nagte an seiner Unterlippe.
»Die gleiche Vorgehensweise?«
Watershed nickte. »Ja. Leiche und Ausweis fehlen.«
»Schuss in den Reifen?«
»Geplatzt ist er auf jeden Fall«, sagte Alvarez. »Hab noch nicht nachprüfen können, ob …«
»Es war ein Schuss.« Grayson sprach aus, was sie alle als Tatsache ansahen, aber noch nicht bewiesen hatten. »Das ist kein Zufall. Das Schwein ist wieder auf der Jagd.«
»Eindeutig«, stimmte Watershed zu.
Alvarez nickte.
»Überprüfen Sie das Kennzeichen«, sagte Grayson. »Ermitteln Sie den Besitzer des Wagens, und dann sehen wir weiter. Wenn die Kugel nicht im Fahrgestell oder sonst wo im Fahrzeug steckt, sucht den Abhang ab. Vielleicht ist sie auf der Straße liegen geblieben, oder sie steckt auf der anderen Seite in der Felswand. Hat schon jemand den Abschleppdienst angerufen?«
»Ist schon unterwegs«, sagte Alvarez. Sie hatte gleich nach ihrer Ankunft durchgerufen.
»Hoffen wir, dass sie bis hierher durchkommen. Auf den Straßen herrscht Chaos. Die halbe Belegschaft hat mit Stromausfällen und Unfällen zu kämpfen.« Er rieb sich das Kinn und schüttelte den Kopf, den Blick auf das Autowrack gerichtet, das mehr und mehr unter Schnee verschwand. »Wir müssen den Scheißkerl endlich kriegen.«
»Ganz meine Meinung«, bekräftigte Pescoli.
Grayson nickte und sah Alvarez an. »Aber zuerst müssen wir das Opfer finden. Und zwar dieses Mal lebendig.«
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7. Kapitel
S
sssst!
Der Streichholzkopf scharrt hörbar über den steinernen Kamin, und scharfer Schwefelgeruch steigt mir in die Nase. Mit einem hübschen Zischen glimmt das Flämmchen vor meinen Augen auf.
Feuer liebe ich seit jeher.
Hat mich schon immer fasziniert, wie schnell es zum Leben erwacht – ein lebendiges, atmendes Ding, das Sauerstoff zum Überleben benötigt. Die züngelnden gelben und orangefarbenen Flammen sind ja so verführerisch mit ihrer Wärme und ihrem Leuchten und ihrem tödlichen Potenzial.
Streichhölzer anzureißen – Feuer zum Leben zu erwecken – ist eine meiner Leidenschaften, eine von vielen.
Behutsam hebe ich den Glaszylinder der Laterne an, entzünde den Docht, noch ein leuchtender Fleck in dem großen, kahlen Raum. Im Kamin knistert und brennt bereits ein Feuer, rote
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