Der Skorpion
Reifen ergab wie bei den anderen – eine Kugel aus einem. 30 -Kaliber-Gewehr.
»Du perverser Kerl«, knurrte sie. Ihr Atem stand in Wolken vor ihrem Mund, und trotz Daunenjacke, Handschuhen, Skihose, Thermounterwäsche und Stiefel fühlte sie eine innere Kälte, die eisiger war als der grimmige Wind, der durch die Schluchten fegte.
Sie wies auf den Reifen und sagte zu der Technikerin mit Kamera: »Wir brauchen ein Foto davon.«
»Wird gemacht.« Virginia Jones, eine Schwarze in Dienstjacke, Handschuhen und Skihose, machte mehrere Fotos, während Selena sich einen Weg durch den gefrorenen Schnee und die niedergerissenen Zweige auf dem Boden der Schlucht bahnte.
»Und was gibt’s hier?«, fragte sie Watershed, der wie immer gereizt wirkte, die Brauen zusammengezogen, die Lippen mürrisch verkniffen. Auch er trug eine von der Dienststelle bereitgestellte Daunenjacke und eine Wollmütze mit breitem Schirm, der seine Brille überschattete und Schneeflocken auffing.
»Sehen Sie hier.« Er hockte sich hin und zeigte mit dem behandschuhten Finger auf eine Stelle im hohen, frisch gefallenen Schnee, wo unter fast fünf Zentimeter frischem Pulverschnee etwas Rotes sichtbar war. »Blut«, sagte er, »eine Blutspur.« Er deutete nach Osten auf eine Biegung des Bachbetts, wo teils verborgen ein Forstwirtschaftsweg verlief. »Sieht aus, als hätte er sie auf einer Art Schlitten fortgeschafft.«
Alvarez richtete den Strahl ihrer Taschenlampe auf die Schneeverwehungen und erkannte dort tatsächlich Schleifspuren und dazwischen eindeutig Blut, dunkelrote Tropfen unter einer dünnen Schneedecke.
»Die sammeln wir ein«, sagte sie.
Mikhail Slatkin, einer der Kriminaltechniker, der versucht hatte, einen Stiefelabdruck im Schnee zu präparieren, nickte, ohne aufzublicken. Der Sohn russischer Immigranten, groß und grobknochig, war knapp sechsundzwanzig Jahre alt und zählte zu den besten Forensikern, die Alvarez je begegnet waren. »Mach ich gleich. Muss erst hier fertig werden.« Er arbeitete schnell, im Wettlauf mit den Elementen, denn der Schnee fegte durch die Schlucht und deckte mit einem Zentimeter pro Stunde die wenigen Spuren zu.
Über das Pfeifen des Windes hinweg hörte Alvarez das Rumpeln eines Motors, hob den Blick und sah Regan Pescolis Wagen hinter einem der Dienstfahrzeuge anhalten. Im nächsten Moment war Pescoli ausgestiegen und zog sich eine Strumpfmütze über die wirren rötlichen Locken. Sie sah fahl und blass aus; dunkle Ringe unter ihren großen Augen zeugten von zu wenig Schlaf.
Was nicht weiter überraschte.
Zwar ging Pescolis Privatleben Alvarez nichts an, trotzdem war sie leicht verärgert. In neun von zehn Fällen musste sie für ihre Partnerin einspringen, weil sie entweder bis spät in die Nacht auf eines ihrer Kinder gewartet, einen Marathon-Streit mit ihrem Ex ausgefochten oder sich zu lange mit einem ihrer Loser-Freunde in den Bars herumgetrieben hatte.
Trotz allem war Pescoli eine brillante Kriminalistin. Und das allein zählte. Sie hatte das Talent, einen Menschen bei der ersten Begegnung festzunageln, das übliche Gerede zu durchschauen und schließlich die Wahrheit herauszufinden. Es wurmte Alvarez gewaltig, dass ihre gute Ausbildung und all ihre Diplome gegen den Bauchinstinkt ihrer Partnerin meist nicht ankamen. Jedes Mal war das wie ein Schlag ins Gesicht für sie, doch Alvarez würde darüber hinwegkommen.
Sie sah sich gerade nach Watershed um, als Pescoli sich bei einem der Deputys in die Liste eintrug und, während sie ihren Namen kritzelte, bereits den Tatort in Augenschein nahm. »Wieder das Gleiche«, sagte sie, als sie auf Alvarez zukam.
Sie roch nach Zigarettenrauch und sah scheußlich aus, aber um diese frühe Morgenstunde sah kein Mensch in Schlechtwetterkleidung gut aus.
»Was haben wir bisher?«
»Nichts Neues. Schau dich um.« Alvarez begleitete ihre Partnerin durch den zertretenen Schnee zum Unfallwagen.
»Mandy Itos Auto?«
»Nein. Kennzeichen aus Washington, aber es ist ein Subaru Outback, ein älteres Modell. Ito fuhr einen Toyota mit Wunschkennzeichen.«
»Einen Prius. Jetzt fällt es mir wieder ein.« Pescolis Kiefermuskeln spannten sich, als sie sich herabbeugte und in das zerbeulte Wrack spähte. »Dann haben wir also ein weiteres Opfer.«
»Sieht so aus.«
Seufzend richtete sie sich auf; ihre gewöhnlich goldfarbenen Augen verdunkelten sich. »Die Fahrertür wurde aufgebrochen? Ein Reifen zerschossen? Kein Ausweis, keine persönlichen Gegenstände wie
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