Der Skorpion
sie daran, dass sie seit dem frugalen Mittagessen, bestehend aus einem Joghurt und einem Apfel, nichts mehr zu sich genommen hatte.
Alvarez legte sich den Riemen ihrer Handtasche über die Schulter und strebte durch die kalte Abendluft dem Lokal zu.
Wild Wills war entsprechend seinem achtzehnhundertachtziger Wildwest-Motto mit rohen Bretterwänden, Wagenrädern als Kronleuchtern und ausgestopften Köpfen von Elchen, Hirschen, Wapitis, Hammeln und Antilopen dekoriert, deren glasige Augen auf die Gäste herabstarrten. Ein präparierter Grizzlybär, die Schnauze zu einem ewigen zähnefletschenden Brüllen aufgerissen, nahm die Gäste, auf die Hinterbeine aufgerichtet, am Eingang in Empfang. Die Einwohner hatten ihn »Grizz« getauft, und die Besitzer schmückten ihn immer entsprechend der Jahreszeit. Der riesige zottige Bär hatte am vierten Juli schon einen rot-weiß-blauen Uncle-Sam-Zylinder getragen und eine kleine Flagge in den Klauen gehalten. Halloween hatte man ihm eine von diesen verrückten Masken aus den
Scream
-Filmen aufgesetzt und ihn mit einer Kettensäge und einem Hexenkessel ausgerüstet … zugegeben, eine sonderbare Zusammenstellung, aber schließlich war ja Halloween.
Alvarez persönlich hatte den Bären immer eigenartig gefunden, doch sie behielt ihre Meinung für sich. Als sie an diesem Abend die Glastüren aufstieß, fand sie Grizz über und über geschmückt vor. Glitzernde Engelsflügel klebten an seinem Rücken, dazu passend zierte ein Heiligenschein seinen Kopf, um seinen pelzigen Hals hatte man eine bunte Lichterkette gewunden.
Und dazu glitzerten seine kleinen Knopfaugen voller Wut; er riss die Schnauze auf und bleckte die spitzen Zähne, obwohl er ein Buch mit Weihnachtsliedern in den Tatzen hielt.
Als würde er »Stille Nacht« singen, das Lied auf der aufgeschlagenen Seite des Buchs. Tja, nicht alles schläft in dieser nicht unbedingt stillen und heiligen Nacht, dachte Alvarez auf dem Weg durch das Foyer zum Speiseraum, dessen Dekoration alles andere noch übertraf.
Als sie den großen Raum durchquerte, passierte sie Tische und Nischen, vollbesetzt mit Gästen und bewacht von den hundertjährigen, ausgestopften Pflanzenfressern mit Geweihen voller Lametta und Lichterketten, die sie aus glasigen Augen anzustarren schienen.
Es war geradezu gruselig.
Willkommen in Grizzly Falls, dachte sie, zog ihre Jacke aus und bemerkte, dass einige Gäste sie ansahen, fragende Blicke an die Polizistin, die vergeblich versuchte, einen Wahnsinnigen zu fassen.
Ohne die schrillen Wanddekorationen und die Gäste zu beachten, die sich jetzt wieder ihrem Essen zuwandten, ließ Alvarez sich ziemlich weit hinten in einer Nische nieder. Sie setzte sich so, dass sie den Eingang im Blick hatte, eine alte Polizisten-Angewohnheit. Sie ertrug es einfach nicht, wenn sie nicht sehen konnte, wer in einem Restaurant kam und ging.
Sandi, die Besitzerin und Kellnerin, kam mit zwei dampfenden Kaffeekannen zu ihr. »Möchten Sie Kaffee? Oder etwas Stärkeres? Der Spezialdrink für heute Abend nennt sich ›Wilde Weihnacht‹.«
»Ich frage höchst ungern, was drin ist.« Der letzte Spezialdrink hatte Wild Will Schluckauf geheißen und aus einer schauderhaften Whiskeymischung bestanden.
»Eierlikör, Crème de Cacao, ein Spritzer Cola und ein Schuss Wild Turkey.« Sandi zog eine Braue bis über den mit Glitzersteinen besetzten Rahmen ihrer Brille hoch. »Wenn Sie möchten, darf es auch eine andere Whiskeymarke sein. Wild Turkey nehmen wir nur wegen des Namens.«
»Ich glaube, ich bleibe lieber bei Kaffee, koffeinfrei«, sagte Alvarez, drehte einen der auf dem Tisch bereitstehenden Becher um und sah zu, wie er sich mit dem warmen braunen Gebräu füllte.
»Haben Sie diesen Psychopathen schon geschnappt?«, fragte Sandi. Sie war eine große Frau mit einem langen hageren Gesicht, mit Augen, die schwarz waren von Eyeliner und die heute, wahrscheinlich zu Ehren des nahenden Weihnachtsfestes, mit grünem Lidschatten betont wurden. Sie war früher mit William Aldridge verheiratet gewesen, nach dem das Lokal benannt war, doch Will und sie hatten sich scheiden lassen, so wurde zumindest gemunkelt. Will war mit seinem Lieblings-Pick-up, dem Wohnmobil, einer Jagdhütte und einer Freundin, zwanzig Jahre jünger als Sandi, aus der Scheidung hervorgegangen, Sandi war alleinige Besitzerin von Wild Wills geworden und hatte die triste Speisekarte mit exotischen Gerichten aus einheimischem Fisch und Wild bereichert. Sie lebte in der
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