Der Skorpion
Wohnung über dem Restaurant und hielt sich, wie es schien, rund um die Uhr nur in ihrem Lokal auf. Sandi hatte auch ihre Genugtuung nicht verbergen können, als sie hörte, dass Wills junge Freundin ihn fallengelassen hatte »wie eine heiße Kartoffel«. Das hatte sie nahezu jedem Gast anvertraut, der in den vergangenen zwei Jahren in ihren Kunstledernischen und auf den Bistrostühlen gesessen hatte.
»Wir arbeiten daran.«
»Dann beeilen Sie sich, ja? Es macht die ganze Stadt total nervös. Kein Mensch redet von diesem Wetter. Alles dreht sich nur um den Bitterroot-Killer. So hat Manny drüben beim
Reporter
ihn genannt.«
Alvarez hatte den Artikel gelesen, den Manny Douglas vom
Mountain Reporter,
Grizzly Falls’ Antwort auf die
L.A. Times,
verfasst hatte. »Wir kriegen ihn«, sagte sie.
»Sie haben mein vollstes Vertrauen.« Doch das war gelogen. Alvarez bemerkte das nervöse Zucken von Sandis glänzend roten Lippen, als sie die Speisekarte auf den Tisch legte. »Angebot des Tages ist Büffelsteak mit Heidelbeerkompott und roten Kartoffeln oder Reispilaw. Dazu gibt es einen Salat nach Art des Hauses mit Spinat, grünem Apfel und Haselnüssen oder eine Brokkolicremesuppe.«
Ein Mann an einem Tisch in der Nähe hob sein leeres Glas, und Sandi huschte hinüber zum Tresen, um ihm einen neuen Drink namens »Wilde Weihnacht« oder eine ähnliche Geschmacksverirrung zu servieren.
Selena sah sich im Lokal um, wo sich normale Bürger, einige mit Einkaufstaschen, an den Tischen und in den Nischen drängten. Zusammen mit der leisen Musik, Country-Western-Balladen, die es schwer hatten, sich gegen das Rumpeln der Heizung und, sobald die Küchentür sich öffnete, das Zischen der Fritteuse durchzusetzen, schnappte sie Gesprächsfetzen auf. Sosehr Sandi sich auch bemühte, ihrem Restaurant eine vornehme Note zu verleihen – die meisten Gäste wollten doch nur Steaks oder Hamburger mit Fritten und Zwiebelringen.
»… was für eine Bestie tut so was? Meine Güte. Unsere Stadt war doch so schön«, sagte eine Frau mit grauer Perücke und einem großen goldenen Kreuz am Kettchen zu ihrem Mann. Sie hatten ihre Mahlzeit beendet, saßen nun vor ihrem Kaffee und teilten sich ein Stück Kokostorte.
»… wenn du mich fragst, sollten wir einen Suchtrupp aufstellen und die Berge auf eigene Faust durchkämmen.« Der Mann, der auf seinen Drink wartete, hatte bereits ein leicht gerötetes Gesicht und trat so großspurig auf wie ein altgedienter Westerner. »Hier besitzen wir doch alle eine Waffe. Vielleicht ist es an der Zeit, dass wir selbst für Gerechtigkeit sorgen. … Die Polizei … Aaah, danke, meine Liebe«, sagte er zu Sandi, als sie ihm ein frisch gefülltes Glas vorsetzte. Er griff danach und nickte. »Das Zeug ist gut. Echt gut.«
»Ich habe gehört, er foltert sie und bindet sie an Bäume und ritzt irgendein komisches satanisches Symbol in die Rinde.«
Eine andere Frau in einer handgearbeiteten Quiltjacke saß mit verdrießlicher Miene an einem Tisch in Alvarez’ Nähe, beugte sich über die Reste ihres Büffelsteaks und flüsterte gut hörbar mit ihrer Freundin.
»Wer hätte das gedacht, hier, in Grizzly Falls?«, entgegnete die Freundin mit einer Begeisterung, die verriet, dass sie stets für jeden Klatsch zu haben war.
Alvarez wandte sich ab.
Ja, wer?
Seit Jahren wünschte sie sich, an den Ermittlungen in einem bedeutenden Fall beteiligt zu sein, einem Fall, der sie zur Hochform auflaufen ließe und ihr Anerkennung einbringen, sie vielleicht sogar überregional bekannt machen würde.
Aber doch nicht so etwas.
Sie bestellte Forelle mit Mandeln, Risotto und Spinatsalat, und sosehr sie sich auch bemühte, sie konnte die Gedanken an den Fall und die Opfer doch nicht abschütteln. Alle arbeiteten nahezu rund um die Uhr daran, und doch kamen sie nicht von der Stelle. Die Öffentlichkeit war gewarnt worden, das Büro des Sheriffs forderte die Mitbürger auf, alles zu melden, was ihnen verdächtig erschien. Männer, Hunde, Fahrzeuge mit Allradantrieb und Hubschrauber suchten nach weiteren Opfern, verlassenen Autowracks oder irgendwelchen Spuren. Alles in allem war es überaus frustrierend.
Sie hatten nicht genügend Hinweise, und die Stunden eines Tages reichten eindeutig nicht aus.
Von wegen Ruhm durch einen bedeutenden Fall, dachte sie, als ihr eine dampfende Platte vorgesetzt wurde und ein Country-Weihnachtslied, gesungen von Wynonna Judd, aus den Lautsprechern tönte. Bisher hatten sie nicht die
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