Der Skorpion
geringste Ahnung, wer diese gewöhnlich so verschlafene Kleinstadt in Montana mit Terror überzog.
Selena griff nach dem Messer und blickte auf ihren Teller. Die Regenbogenforelle, komplett mit Kopf, schien zu ihr hochzusehen. Sie hatte den Eindruck, wo sie ging und stand, beobachtet zu werden. Der Mann im Parka vor dem Restaurant, die übrigen Gäste im Wild Wills, die ausgestopften Tierköpfe an den Wänden und jetzt sogar ihr Essen.
Was soll’s? Sie erwiderte den Blick der Forelle und begann, sie zu zerlegen.
Bon appetit.
Es ist an der Zeit, in die nächste Phase einzutreten. Ich weiß es, wenn ich sie ansehe.
Die Verletzungen der Frau heilen gut. Mit ein wenig Hilfe wird sie selbständig laufen können, auch im Schnee. Ich stelle mir vor, wie ich sie am Seil vor mir hertreibe. Natürlich wird sie mich verfluchen und sich selbst auch, aber sie wird nichts tun können, was ich nicht will.
Ich sitze in der Hütte am knisternden warmen Feuer, bin überreizt und will sie loswerden. Je länger ich sie bei mir behalte, umso größer wird das Risiko, dass ich entdeckt werde. Die Polizei hat wie immer keine Ahnung, aber das kann sich ändern. Ich darf sie nicht unterschätzen.
Außerdem ist meine Botschaft fertig. Die Buchstaben sind perfekt, der Stern ist präzise positioniert. Aber das ist im Grunde ja selbstverständlich: Ich habe die Botschaften fertiggestellt, sobald ich wusste, wer die Frauen sind, die ich zu opfern gedenke. Und der Stand der Sterne – der war vorgegeben.
Meine Nerven sind zum Zerreißen gespannt, meine Gedanken eilen der Zeit voraus zu dem Moment, an dem sie erkennen wird, dass ich sie hinters Licht geführt habe, dass ich keineswegs vorhabe, sie wieder freizulassen.
Dieser Moment – wenn ihnen klarwird, dass ich ihr Schicksal ultimativ in der Hand habe, wenn ich nicht nur Angst, sondern auch eine gewisse müde Resignation in ihren Gesichtern sehe –, das ist der herrlichste Moment überhaupt. Beinahe wie ein Orgasmus.
Bald, vertröste ich mich. Nur noch ein paar Stunden. Aber ich bin des Theaters überdrüssig, mag keine Rolle mehr spielen, die mir fremd ist.
Flirten. Lachen. Mich umgänglich und liebenswürdig geben. Es ermüdet mich.
Im Augenblick schläft sie, ahnt nicht, was ihr bevorsteht, also habe ich Zeit. Und wenn sie mir auch nicht restlos vertraut, so hat sie doch akzeptiert, dass ich ihre einzige Rettung bin; sie hat sonst niemanden, der ihr helfen könnte.
Heute Abend habe ich bemerkt, dass sich ihre Einstellung geändert hat. Und jetzt kann ich zum nächsten Schritt übergehen.
Das Schneemobil ist beladen. Startbereit. Und der Himmel ist auf meiner Seite. Stehen die Sterne nicht genau richtig? Lässt das Unwetter etwa nicht nach? Zumindest für eine Weile?
Die Zeit bis zum nächsten arktischen Sturm in diesen Bergen dürfte gerade ausreichen. Nicht nur für eine, sondern für zwei. Ich muss lachen, wenn ich mir vorstelle, wie das die dumme Polizei verblüffen wird. Dann wissen sie nicht, was sie tun sollen. Wie so oft.
Wenn ich sie auf dem Sofa liegen und schlafen sehe und das Feuer ihr Gesicht bescheint, rührt sie mich ein kleines bisschen, aber ich will nicht daran denken. Jedes Gefühl würde alles nur komplizierter machen, und mir könnten Fehler unterlaufen.
Ich könnte sie begehren.
Ich könnte es sogar riskieren, mit ihr zu schlafen … Sie zieht es bereits in Erwägung; das habe ich heute in ihrem Blick erkannt. Ja, sie hat immer noch Angst, ist aber auch ein wenig aufgeregt und fängt an, sich auf mich zu verlassen.
Das kann ich nicht akzeptieren. Ich gehe hinüber in die Küche, wo es kalt ist. Das Feuer im Herd ist längst erloschen. Ich schenke mir einen Drink ein. Pur.
Am Durchgang zum Wohnzimmer betrachte ich sie und trinke einen Schluck. Der Whiskey rinnt heiß durch meine Kehle und wärmt mein Blut. Ich lasse den Whiskey im Glas kreisen und nehme einen weiteren großen, wärmenden Schluck. Der Drink beruhigt mich und erhöht gleichzeitig meine Vorfreude. Ich betrachte sie, wie sie da so unschuldig liegt.
Wie ein Lamm auf der Schlachtbank.
Ach, ich könnte sie problemlos verführen. Sie auf die Halsbeuge küssen, meine Finger an ihrem Körper herabwandern lassen, sie erforschen, während ich sie vor Erwartung, vermischt mit Angst, rascher atmen höre.
Beinahe bereitwillig würde sie sich von mir ausziehen lassen. Und das werde ich tun, aber sie wird mehr erwarten. Sie wird erwarten, dass ich mit den Fingern ihre Schenkel öffne, dass
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