Der Skorpion
über Nacht hatten die Räumfahrzeuge erhebliche Fortschritte auf den Straßen gemacht. Vielleicht konnten heute die Hubschrauber starten und die Umgebung absuchen. Vielleicht, vielleicht konnte der Fall heute gelöst werden. Andererseits …
»Du arbeitest heute, nicht wahr?«
Alvarez antwortete nicht.
»
Dios,
Selena. Es ist noch nicht einmal acht Uhr morgens. Sonntag. Der Sonntag vor Weihnachten. Du solltest noch im Bett liegen oder zur Messe gehen.«
»Ich habe keine festen Arbeitszeiten, das weißt du doch.« Sie schob mit der Schulter die Eingangstür auf und nickte dem Angestellten zu, der Nachtschicht am Empfang hatte.
»Du arbeitest zu viel.«
»Das sagst du.«
»Das sagen
alle.
Dein Bruder Estevan, er ist Polizist, sogar mit Auszeichnungen, findet auch, dass du nicht so viel zu arbeiten brauchst.«
In Alvarez’ Augen war Estevan faul, doch das würde sie ihrer Mutter gegenüber nicht äußern. »Was gibt’s denn, Mom?«, fragte sie und durchschritt den Flur zu ihrem Arbeitsplatz. Dort angekommen, schaltete sie die Schreibtischlampe ein.
»Ich hatte gehofft, du hättest es dir anders überlegt. Dass du zu Weihnachten doch nach Hause kommst.«
Selena sah dieses »Heim« vor ihrem inneren Auge aufblitzen: das eingeschossige Haus in Woodburn, Oregon, vier Blocks vom Highway 99 entfernt, in dem sie mit fünf Brüdern und zwei Schwestern aufgewachsen war. Die drei Mädchen hatten sich ein kleines Zimmer unter der Dachschräge geteilt. Die Jungen belegten drei Zimmer auf der anderen Seite des Flurs, die zwei ältesten hatten eigene Räume im Untergeschoss. Ihre Eltern schliefen im Erdgeschoss. Das Haus war hellhörig und eng und in den ersten vierzehn Jahren ihres Lebens ein schützender Hafen gewesen.
Später war es die Hölle.
Doch zu Weihnachten war das Haus mit Lichterketten an den Giebeln und Dachrinnen geschmückt, im Vorgarten stand eine handbemalte lebensgroße Krippe, vor dem Wohnzimmerfenster glitzerte ein geschmückter Christbaum, ihre Tante Biatriz spielte Weihnachtslieder auf dem Klavier, während ihre Mutter und Großmutter traditionelle mexikanische Gerichte, einen Truthahn und verschiedenste andere Festspeisen von Kartoffelbrei bis zu Roastbeef und gedünsteten Tamales zubereiteten.
»Tut mir leid«, log Alvarez und setzte sich an ihren Schreibtisch, »ich kann hier nicht weg.«
»Es ist Weihnachten, niña.«
»Ich weiß, Mom, aber hier treibt ein Serienmörder sein Unwesen. Ich dachte, ihr hättet darüber in der Zeitung gelesen.«
»Aber du musst doch einen Tag freibekommen.«
»Nicht in diesem Jahr.«
»Willst du behaupten, dass niemand über die Feiertage verreist? Das glaube ich nicht.«
»Ich kann dieses Jahr einfach nicht kommen. Grüß alle von mir«, sagte Alvarez, nicht bereit, sich von ihrer Mutter Schuldgefühle einreden zu lassen.
»Du hast immer die Piñata für die Kleinen aufgestellt.«
»Dieses Jahr aber nicht. Das kann diesmal Lydia machen.« Bei dem Gedanken an ihre jüngere Schwester empfand Alvarez doch ein leises Bedauern. Lydia würde sie vermissen, und vielleicht Eduardo. Vielleicht. »Ich rufe an und spreche mit euch allen.«
»Von wo? Was machst du denn an Weihnachten?«
Das weiß Gott allein.
»Ich bin bei Freunden.« Wieder gelogen. Sie hatte noch keine Pläne. Vermutlich würde sie arbeiten, Feiertagszuschlag kassieren und dann zu Hause im Pyjama mit einem Film und einer Schüssel Popcorn feiern. Allein das erschien ihr schon wie der Himmel auf Erden, selbst wenn sie niemanden hatte, der neben ihr saß.
»Du brauchst deine Familie, Selena«, warnte ihre Mutter.
»Natürlich. Ich hab dich lieb, Mom, aber jetzt muss ich Schluss machen.«
»Gott sei mit dir, mein Kind«, sagte Juanita und flüsterte rasch ein spanisches Gebet, bevor sie auflegte.
»Du und dein schlechtes Gewissen«, schalt Alvarez sich selbst. Sie fuhr den Computer hoch und holte sich wieder die Bilder der toten Frauen und der dazugehörigen Botschaften auf den Bildschirm. Mit Hilfe eines Bildbearbeitungsprogramms legte sie die Botschaften übereinander und speicherte die jeweilige Position der Sterne. Wenn dieser Kerl ihnen nun nicht nur durch die Buchstaben der Botschaft, sondern auch durch die Sterne etwas sagen wollte?
Nachdem sie die Sterne in einem gesonderten Fenster aufgerufen hatte, startete sie ein astronomisches Suchprogramm, um herauszufinden, zu welchem Sternbild diese Konstellation gehören könnte, wenn überhaupt. Leider kamen Dutzende von Sternbildern in
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