Der Skorpion
zu viel zu tun, steckte bis über beide Ohren in Arbeit, und deshalb habe ich sie angerufen und ihr vorgeschlagen, dass wir uns dort treffen sollten. Es soll wohl ein Trost für mich sein, dass sie auf der Stelle tot waren. Wie auch immer, das ist lange her, und ich mag nicht darüber sprechen und auch nicht daran denken.«
»Deshalb hast du keine Fotos aufgestellt.«
»Ja.« Er griff nach seiner Jacke.
»Und dann bist du zum Einsiedler geworden.«
»Nicht ganz.« Er prüfte seine Taschen und ging zur Tür.
»Tut mir leid.«
»Das sagtest du schon.«
»Ich weiß, aber …«
»Lass uns lieber darüber reden, was hier und jetzt passiert. Hast du beim Herumschnüffeln auch deine Sachen gefunden?«
»Meine Sachen?«
Er ging an ihr vorbei zu dem großen Bücherschrank, öffnete eine der unteren Schubladen und entnahm ihr eine ihr wohlbekannte Reisetasche.
Wie hatte Jillian sie übersehen können? Sie meinte doch, sämtliche Schränke durchsucht zu haben, allerdings hatte sie sich aber auch noch ein wenig benommen gefühlt. Bis jetzt hatte sie kaum einen Gedanken an die Tasche verschwendet, ein eindeutiger Beweis für ihren angegriffenen Geisteszustand. Ihre Nerven waren bis zum Zerreißen gespannt, sie hatte Schmerzen am ganzen Körper, sah scheußlich aus und fühlte sich auch so. Der Anblick der Tasche, die sie vor Tagen gepackt hatte, ließ sie fast zusammenbrechen. Die Tasche führte ihr überdeutlich vor Augen, dass ihr wahres Leben Lichtjahre entfernt war, und auch, dass sie vielleicht nie wieder in dieses Leben zurückfinden würde.
»Ich dachte, du würdest dich vielleicht gern umziehen«, sagte MacGregor und stellte die Reisetasche neben ihr ab.
Sie räusperte sich. »Ja, sehr gern.«
»Ich weiß nicht, ob du eine Hose über den verletzten Knöchel ziehen kannst.«
»Mal sehen.«
Er zögerte. »Brauchst du Hilfe? Ich könnte …«
»Nein!« Sie reagierte spontan und lauter, als sie beabsichtigt hatte. »Entschuldigung. Nein, ich komme schon allein zurecht.«
Er kniff leicht die Augen zusammen. »Weißt du, ich glaube, ich sollte meine Diagnose korrigieren. Dafür, dass deine Rippen angeknackst sind, bist du ziemlich beweglich. Mit etwas Glück sind es nur Prellungen. Glaub mir, auch die tun furchtbar weh.«
»Schön.« Ihr war es egal, ob ihre Rippen angeknackst oder gebrochen waren, sie schmerzten auf jeden Fall. »Würde es dir etwas ausmachen, mir die Tasche ins Schlafzimmer zu bringen?«
Er tat ihr den Gefallen, und Jillian stand auf und ging ins Schlafzimmer, wo sie die Tür hinter sich schloss und sich bedeutend mühsamer, als sie es sich vorgestellt hatte, frische Unterwäsche anzog und vorsichtig in einen dicken Pullover schlüpfte. Die Rippen schmerzten bei jeder Bewegung, doch sie war entschlossen, die Quälerei durchzustehen. Die Jeans bereiteten ihr noch mehr Schwierigkeiten, doch sie hatte ein Paar Bootcuts dabei, die ihr ein bisschen zu groß waren, und es gelang ihr, sie über den Knöchelverband zu streifen.
Danach legte sie sogar ein wenig Lippenstift und Wimperntusche auf und betrachtete sich in dem kleinen Spiegel über dem abgenutzten Sekretär. Sie sah schon besser aus, wenngleich ihre Haut noch grünlich und aufgeschürft war und ihre Augen tief in den Höhlen lagen.
Eine halbe Stunde später kehrte sie zurück ins Wohnzimmer, wo das Feuer prasselte und MacGregor Holz stapelte. Der Vorrat war inzwischen fast einen Meter hoch.
Sie wusste, warum.
»Du willst gehen«, sagte sie, denn es lag auf der Hand, dass er sie mit genügend Heizmaterial versorgte, damit sie in seiner Abwesenheit die Hütte warm halten konnte. Ein schwarzer Topf köchelte auf den Kohlen, auf einem Tisch neben dem Kamin stapelten sich Päckchen mit Fertigsuppe und Haferflocken.
»Wenn ich jetzt nicht gehe, habe ich vielleicht nie wieder die Gelegenheit. Ich bin fest entschlossen, einen Ausweg aus dieser Situation zu finden. Falls ich anrufen kann, werde ich das tun. Falls ich ein paar Bäume zersägen muss, um die Straße freizuräumen, wird es etwas länger dauern. Wie auch immer, in ein paar Stunden dürfte ich zurück sein. Spätestens vor Einbruch der Dunkelheit.«
Die Vorstellung, allein in der Hütte zurückzubleiben und wieder nur abwarten zu müssen, war unangenehm. Doch Jillian hatte keine Wahl.
»Ich lasse Harley bei dir, und dort im Schrank steht ja das Gewehr.«
Sie nickte.
MacGregor durchquerte das Wohnzimmer bis dahin, wo sie immer noch auf die Krücke gestützt stand. »Ich bin
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