Der Smaragdenregen
daß der Drachen nicht abgestürzt ist, geht auch nicht mit rechten Dingen zu.
Er untersuchte besorgt die Schlucht und den Abhang, schaute hinunter zum Fluß, schritt das Steilufer ab. Doch nirgends gab es den kleinsten Anhaltspunkt dafür, daß etwas Schlimmes passiert sein könnte.
»Nein«, sagte der Großvater entschieden, »ausgeschlossen, daß dem Jungen etwas zugestoßen ist. Der Abhang ist zwar steil, doch wenn er hinuntergerutscht wäre und sich verletzt hätte, müßte er ja irgendwo zu entdecken sein. In dem Flüßchen zu ertrinken, ist jedenfalls unmöglich. Es ist so flach, daß selbst ein Huhn hindurchwaten könnte.«
Er ging über die Bretterstege zum anderen Ufer hinüber, entdeckte aber auch dort nichts Verdächtiges.
Die Schlucht im Sonnenlicht wirkte völlig arglos und wenig geheimnisvoll, nichts schien ihren unheimlichen Ruf zu rechtfertigen.
Wenn der Junge zum Abendbrot noch immer nicht zurück ist, hat er wohl in der Tat einen Abstecher nach Hause gemacht, sagte sich der alte Grigori. Ist ja nicht so sehr weit, und wahrscheinlich hat’s ihn zu seinen Freunden gezogen. Genau, das ist es, und das werd ich auch der Großmutter sagen, damit sie sich nicht unnütz sorgt.
Der einzige, der ihn hätte berichtigen können, war der Drachen. Nur er konnte bezeugen, was sich wirklich in der Schlucht zugetragen hatte. Er hätte ihm bestimmt von dem starken, trichterförmigen Sog am Grund der Schlucht erzählt, von dem bläulich schimmernden Stein, der alles schluckte, was in seine Nähe kam, und der in die Tiefe des Gesteins führte.
Vorher war dieser Stein von Erde bedeckt gewesen und deshalb nicht zu sehen. Doch das jetzt seichte Flüßchen hatte beim letzten Frühjahrs-Hochwasser große Erdschichten mit sich fortgerissen und ihn bloßgelegt.
Aber weil der Drachen nur aus Papier war und nicht sprechen konnte, trug ihn Großvater Grigori auf der Schulter nach Hause, ohne etwas zu erfahren.
DER DOPPELGÄNGER
Kostja hatte bei allem noch Glück gehabt, denn der Drachen war stabil und bremste seinen Sturz vom Abhang erheblich. Über dem Zentrum des Lufttrichters angelangt, geriet der Junge dann in den mächtigen Sog und glitt ins Innere des steinernen Schachts, der sich unter ihm auftat. Erst nach einiger Zeit kam er dort zum Halten.
Seinen Augen bot sich ein erstaunliches Bild. Vor ihm breitete sich ein Flüßchen mit plätschernden Wellen aus, dahinter lag, sanft ansteigend, eine kleine, von Gebüsch umrahmte Wiese. Ihr grüner Teppich war voller bunter Blumen. Hinter der Wiese erhob sich ein Wald.
Das alles war ganz deutlich zu erkennen, sogar der sandige Grund schimmerte durchs klare Wasser. Der Junge schob sich vorsichtig weiter.
Auf einmal schien Bewegung in das Bild zu kommen. Alles rührte sich, lebte auf: das Wasser, das Gras, das Laub der Bäume. Die Kiesel auf dem Grund des Flüßchens bildeten andere Muster, und die Wasseroberfläche kräuselte sich.
Kostja hatte sich unwillkürlich noch ein Stück vorangetastet, als unvermittelt eine menschliche Gestalt vor ihm auftauchte. Um ein Haar wäre er mit einem Jungen zusammengeprallt, der gerade in einen Brunnenschacht stürzte. Die Augen dieses Jungen waren erschrocken aufgerissen, seine Haare vom Wind zerzaust.
Der sieht mir kolossal ähnlich, dachte Kostja, dem die Sache allmählich verdächtig wurde. Gleich darauf durchfuhr ihn siedend heiß der Schreck. Aber das bin ja wirklich ich! wollte er ausrufen, doch seine Zunge gehorchte ihm nicht. Sein Herz dagegen begann wild zu klopfen, und er spürte, wie ihm die Haare zu Berge standen.
Kostja wurde von Panik erfaßt und wich zurück, um einen Zusammenstoß zu vermeiden. Der Doppelgänger verschwand.
Dem Jungen wurde es immer unheimlicher. Was sollte er bloß machen? Sich noch weiter vorantasten? Nein, wohl lieber doch nicht. Er hatte keinerlei Lust, erneut auf seinen Doppelgänger zu stoßen.
Also beschrieb er in dem engen Schacht vorsichtig eine Kehrtwendung und bewegte sich nun in entgegengesetzter Richtung vorwärts.
Es wurde zunehmend schummriger um ihn her, und bald war es ganz dunkel. Langsam, um nicht anzustoßen, legte Kostja Meter um Meter zurück. Und mit jedem Schritt kam er leichter voran!
Gleichzeitig geschah etwas Seltsames mit ihm. Er hatte die Empfindung, in zwei Teile gespalten zu werden. Eine Hälfte von ihm bewegte sich durch einen steinernen Korridor, die andere schien ihn von außen zu beobachten. Kostja fand das zunächst ganz lustig, dann jedoch stutzte er,
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