Der Sog - Thriller
den Jungen und schleuderte ihn durch die Luft. Er hielt nicht an, er beschleunigte.
» Großer Gott.«
Nicholas war mit zwei, drei ruckartigen Schritten auf dem Gehsteig unten. Der Junge lag auf der Straße wie ein verdrehtes Hakenkreuz. Himmel, dachte er. Der Wagen hat nicht einmal verlangsamt.
Er riss die Augen auf.
Tatsächlich hast du nicht einmal einen Aufprall gehört.
Dann stand der Junge wieder. Er ging über den mit Unkraut bewachsenen Gehweg auf die Wohnungen zu. Im Vorbeigehen verdrehte er die finsteren Augen kurz zu Nicholas. Mit den Händen in den Taschen stieg er die Eingangstreppe hinauf, läutete, wartete, zog den Schraubenzieher aus der Tasche und stieß ihn einem unsichtbaren Opfer zweimal in den Leib, dann wich er zurück, zurück, zurück, bis er auf der Straße von einem unsichtbaren Wagen erfasst und durch die Luft geschleudert wurde, um als verdrehtes Häufchen zu landen. Darauf verschwand er von der Straße, erschien wieder auf dem Gehsteig, und alles begann von vorn.
Nicholas stand wie erstarrt, hypnotisiert von der makabren Endlosschleife. Eine Frau mit einer blauen Gehhilfe aus Aluminium schlurfte mitten durch den Jungen, als er über den Gehsteig zurückwich. Sie hat ihn nicht gesehen.
Nicholas wartete, bis der Junge von der Treppe zurückgewichen war, dann eilte er hinauf, raffte seine Kartons und den zertrümmerten Fotorahmen zusammen und lief zu seinem Auto, ohne sich noch einmal umzusehen. Er zitterte am ganzen Körper.
Eine Computertomografie – unter dem Vorwand in Auftrag gegeben, das Rätsel der inzwischen verschwundenen Kopfschmerzen lösen zu wollen – förderte zutage, dass sein Gehirn vielleicht zwei Prozent kleiner als im Durchschnitt, ansonsten aber normal war.
Aber nichts war normal.
Er sah Tote.
Nach seiner Vision des Jungen mit dem Schraubenzieher fuhr Nicholas zu seiner neuen und bescheiden kleinen Wohnung in Greenford, nahm drei Schlaftabletten und sank in einen tiefen, traumlosen Schlaf. Am folgenden Tag gelang es ihm, den Jungen als pure Einbildung abzutun, hervorgerufen durch den Schlag auf den Hinterkopf, aber die Ergebnisse der Computertomografie waren ein zwiespältiger Segen.
» Sie sehen Dinge?«, fragte die Radiologin. » Was für Dinge?«
Der Gesichtsausdruck der Frau veranlasste Nicholas, die erstbeste Lüge aus dem Hut zu ziehen, wie ein ungenügend vorbereiteter Zauberer, der einen schlecht versteckten Blumenstrauß hervorwurstelt. » Sommersprossen. Über die Leute verteilt. Dunkel, wie Punkte von einer gestrichelten Linie …«
Sie erklärte, sie könne keinen physischen Grund erkennen, warum er unter Halluzinationen leiden sollte.
Keine zehn Minuten später, als er in der New Cavendish Road auf einen Bus wartete, sah er eine stattliche Frau mittleren Alters an einem Sandwich würgen und in die Knie gehen. » Alles in Ordnung?«, rief er und sprang hinzu, um ihr zu helfen. Seine Hände gingen durch die Frau hindurch, und er legte eine schmerzhafte Landung auf dem von Kaugummi verklebten Pflaster hin und schürfte sich die Handflächen auf. Er rappelte sich hoch, nicht ohne wahrzunehmen, dass eine kleine Gruppe Pendler unauffällig zurückgewichen war und sich alle Mühe gab, ihn nicht anzusehen. Die erstickende Frau rollte sich auf den Rücken, ihre Wurstfinger gingen an die eigene Kehle, die Brust hob und senkte sich, und sie lief blau an, bis sie schließlich reglos dalag … und verschwand.
Nicholas entschuldigte sich bei den Wartenden und entfernte sich mit schlotternden Knien, um sich eine andere Bushaltestelle zu suchen.
Danach sah er sie jeden Tag. Krumm und zerschmettert in den unsichtbaren Wracks verunglückter Autos hängend. Aus Gebäuden stürzend. Lautlos schreiend, während längst verloschene Flammen ihre aufplatzende Haut röteten und verkohlten.
Er war überzeugt, dass er dabei war, verrückt zu werden.
Und es wurde schlimmer, als er wieder zu arbeiten begann.
Es waren nur zwei Tage, an denen man ihm aufmunternd zublinzelte und teilnahmsvoll auf den Rücken klopfte, aber es fühlte sich an wie eine Ewigkeit, weshalb er froh war, als er in einen Lieferwagen steigen und London verlassen durfte. Doch die Freude war von kurzer Dauer.
Seine Jagd nach Schätzen führte ihn in feuchte Kellerschlünde und auf staubige Dachböden, in klapprige Garagen und von Unkraut erstickte Wohnwagen. Er hatte es immer beunruhigend gefunden, sich allein an diesen Orten aufzuhalten, wenn draußen das Licht am feuchten Himmel verblasste.
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