Der Sog - Thriller
hatte seit fast einem Monat die Geister von Fremden gesehen, aber nie hatte er an die Möglichkeit gedacht, Cate noch einmal zu sehen.
Er eilte mit klopfendem Herzen zu seinem neuen Zuhause in Greenford und schnappte sich den Schlüssel für die noch unverkaufte Wohnung in Ealing.
Die Sonne war schon hinter der grauen Skyline der Stadt verschwunden, als er an dem Schild » For Sale« vorbei zur Rückseite des Komplexes eilte (die Vordertreppe mied er gewissenhaft) und über die hintere Treppe zu ihrer kleinen Wohnung hinaufstieg. Sie war sauber und leer wie ein geplündertes Grab. Sein Herz schlug so heftig in der Brust, dass seine Finger zitterten. Er durchschritt die hallende Küche, am stillen Wohnzimmer vorbei, ins Badezimmer. Es war inzwischen wieder sauber – die lange Spur durch den Staub, wo Cates Ferse weggerutscht war, während ihr Hals seine tödliche Parabelbahn zum Wannenrand genommen hatte, war längst verschwunden, aller Gipsstaub weggeputzt. Der Duschvorhang, den sie beim fruchtlosen Versuch, sich zu retten, gepackt und aus seiner Schiene gerissen hatte, war ersetzt worden. Die Decke blieb ungestrichen.
Und sie war da.
Sie streckte sich hoch auf einer unsichtbaren Leiter.
» Cate?«
Beim Klang seiner Stimme drehte sie sich um. Setzte einen Fuß zu einem Schritt in die Luft, dann den andern … und dann rutschte ein Fuß unter ihr weg. Eine staubbedeckte Hand griff ins Leere, die andere schloss sich um den Duschvorhang, der ihren Sturz nicht aufhielt. Sie fiel. Ihr Mund öffnete sich zu einem überraschten kleinen » O«. Eine Ferse traf auf den Boden und rutschte weg – ganz ähnlich wie sein eigener auf der Plastiktüte –, und sie taumelte rückwärts. Nicholas hechtete vor, um sie aufzufangen, und seine Finger stießen schmerzhaft an die Fliesen. Genau unter seinem Gesicht traf ihr Hals auf den harten, zahnweißen Rand der Badewanne, und ihr Haar wurde nach hinten geschleudert. Die Schutzbrille flog ihr vom Kopf. Und ihre Augen starrten ins Leere und wurden von einem unsichtbaren Staubnebel weiß eingepudert. Die Luft wich langsam aus ihrer Brust, die sich zu keinem neuen Atemzug mehr hob.
Nicholas schnürte es die Kehle zu. Seine weit aufgerissenen Augen brannten.
Sie sah so klein aus. Genau so hatte er sie am Nachmittag des Unfalls gefunden: lang hingestreckt wie aus Erschöpfung, schmerzhaft verbogen, die Augen ins Leere starrend.
Dann verdrehte sie die Augen zu ihm. Nur für einen Moment. Es war ein Blick, der alles und nichts bedeuten konnte. Ein Blick, so leer wie ein verstaubtes Glas, das auf einem Fensterbrett vergessen wurde. Dann war sie wieder oben auf der unsichtbaren Leiter und schleifte, kurz davor, ein ums andere Mal zu sterben.
Nicholas blieb bis Mitternacht und sah sie fallen und sterben, bis seine Augen so rot und seine Kehle so wund waren, dass er kaum mehr sehen und atmen konnte. Er versuchte sein Herz mit Willenskraft dazu zu bringen, zu versagen und stehen zu bleiben, doch es pumpte weiter, unbekümmert von seinem Schmerz. Schließlich schloss er die Badezimmertür, sperrte die Wohnung ab und fuhr sehr langsam davon.
Er blieb drei Tage lang im Bett.
Die dritte und letzte Person, der er von seinen Visionen erzählte, arbeitete von einem kleinen Laden abseits der High Street aus, zwischen einem Discounter für Gepäck und einer Bäckerei. Ein lose aufgehängtes Schild verkündete: » Madam Sydel – Karten- und Handleserin, Wahrsagerin«.
Sie war eine verhutzelte Dame, braun und verdreht wie der Stamm eines zähen mediterranen Baums, das grell gefärbte Haar von glasierten Perlen durchsetzt. Als sie unter ihre Kopfhaut langte und sich entschlossen kratzte, wurde Nicholas klar, dass es eine Perücke war. Weiter kratzend führte sie ihn in einen Salon, der mit gerafften Seidenstoffen gesäumt war und nach Weihrauch und verbranntem Haar roch. Sie setzte ihn auf einen Stuhl und nahm seine Hand.
Er kam sofort zur Sache. » Ich sehe Geister.«
» Ach ja? Und wie viel verlangen Sie?«
Nicholas fuhr nach Hause, griff zum Telefon und buchte einen Flug nach Australien.
Als er an dem Tag vor seinem Abflug von Heathrow aufwachte, regnete es so leicht, als schwebe Dampf vom Himmel. Bei seiner Ankunft am Friedhof in Newham Mitte des Vormittags veranstaltete die Sonne ein Tauziehen mit den Wolken und ließ kleine Diamanten auf den Rosen und Weiden entstehen.
Nicholas setzte sich schwerfällig an Cates Grab.
Er betrachtete ihren Grabstein, und Schuldgefühle stiegen in ihm
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