Der Sog - Thriller
sie sich fühlen würde, wenn er eintraf. Und jeden Tag hatte sie sich eingestehen müssen, dass sie seine Rückkehr fürchtete. Dann hatte sie ihn aus dem Wagen steigen sehen – ein schmaler, langbeiniger Mann mit einem schmutzig blonden Haarschopf –, und ihr Herz war gehüpft wie ein Kieselstein auf dem Wasser. Donald! Sofort hatte sie sich selbst gescholten. Donald war seit dreißig Jahren tot. Aber sah er nicht bei Gott aus wie sein Vater?
Sie hatte ihn im gelben Schein der Straßenlampe gesehen, hatte bemerkt, wie schlecht er aussah. Wie Sargents Gemälde von Robert Louis Stevenson. Schmalgliedrig und lang, blass und dunkeläugig. Von stummen Dingen in dunklen Ecken zu langen Schritten gehetzt. Mit einem Leuchten in den Augen, das Fieber, Genie oder Wahnsinn sein konnte. Als es an der Tür läutete, musste sie gegen die Versuchung ankämpfen, die Lichter zu löschen, sich in einen Winkel zu verkriechen und so zu tun, als sei sie nicht da. Wieso? Wieso wollte sie ihrem eigenen Sohn aus dem Weg gehen?
Weil er Unglück bringt.
Sie hatte sich geohrfeigt für diesen Gedanken, die Tür aufgerissen und die Arme um ihn geschlungen, ehe sie beide zu dem Schluss kamen, dass ein Nicken und ein Kuss genügten.
Der Kessel rumpelte unzufrieden und schaltete sich aus. Katharine klatschte einen Teebeutel in ihre Tasse und ertränkte ihn in brühend heißem Wasser.
Unglück. Genau wie Donald.
Sie schnaubte wütend auf sich selbst und setzte sich.
Unsinn. Sie war nur nervös, weil ihr Junge nach so langer Zeit nach Hause kam, und er würde zu einem Teil ihres Lebens werden wollen, das sie sich ohne ihn sehr behaglich eingerichtet hatte. Suzette in Sydney, Nicholas in London, ein Telefongespräch jede Woche, und es war gut so. Ihr Leben gehörte ihr, und ihre Kinder wurden aus der Ferne geliebt. Ein Besuch von Suze und den Kindern alle sechs Monate, ein Flug nach London alle zwei Jahre, um Nicky und Cate zu besuchen.
Ach.
Katherine trank ihren Tee. Cate war tot, und Nicky war zu Hause.
Fast hatte sie sich gewünscht, er würde beim Anblick seiner Mutter in Tränen ausbrechen. Es hätte bedeutet, dass er nicht fertig wurde mit dem, was geschehen war. Sie war damit fertig geworden, als Donald sie verlassen hatte und später, als er gestorben war. Sie hatte damit fertig werden müssen, sie hatte zwei Kinder großzuziehen gehabt. Wenn Nicky heute Abend geweint hätte, nun, das hätte doch etwas bewiesen, oder?
Er sah so krank aus. War sie so abgemagert, als sie Donald zum Gehen zwang? Nein; sie hatte damals gewusst, dass sie sich im Krieg befand, im Krieg gegen die Zeit und die Welt, und im Krieg aß man so viel und wann man konnte. Sie hatte ihre Kraft behalten. Es war Donald gewesen, der verfallen war. Donald, der dünn geworden war, der gehetzt gewirkt hatte …
Sie schüttelte den Gedanken ab. Vorbei. Alles Vergangenheit.
Sie trank noch einen Schluck und schüttete den Rest in den Ausguss. Ihr Junge war zu Hause, und er brauchte jemanden, der sich um ihn kümmerte. Es war zwar lange her, aber sie würde zumindest versuchen, wieder Mutter zu sein.
» Ich verstehe nicht, warum er nicht hierherkommen kann.«
Suzette beachtete Bryan nicht. Sie steckte bis zum Gesäß im Schrank des Gästezimmers und suchte nach ihrem zweiten Haarfön, dem kleinen.
» Ich meine, er ist schließlich allein, oder? Ein paar Tage bei eurer Mutter, dann kann er hier herunterfliegen …«
» Bryan«, rief Suzette mit zuckersüßer Stimme. » Komm doch mal kurz hierher, Schatz.«
Einen Moment herrschte Schweigen – und Suzette stellte sich vor, wie Bryan begriff, dass er seine Frau nun wirklich wütend gemacht hatte. Dann hörte sie zögerliche Schritte hinter sich. Aha! Da war der Fön ja, in einer Reisetasche. Sie wurstelte ihn aus dem Schrank und drehte sich zu Bryan um.
» Was ist?«, fragte er leise und in einem Ton, der verriet, dass er es sehr wohl wusste.
» Hast du vor, noch weiter darauf herumzureiten?«
Sie bemerkte, dass sie den Fön wie eine Pistole hielt und fing deshalb an, das Kabel neu aufzuwickeln. Sie war eigentlich gar nicht wütend auf Bryan; er war ein guter Kerl. Ein witziger Typ. Ein fabelhafter Vater. Und es war immer sein Geschäft, das die zweite Geige spielte, wenn etwas zu erledigen war. Er war selbständiger Hydrologe und einigermaßen erfolgreich dazu, aber es war Suzettes Tätigkeit, die das große Geld einbrachte und ihnen erlaubte, in diesem wunderbar renovierten Stallgebäude so nahe am Zentrum von
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