Der Sog - Thriller
auf. Der Stein war schwarz und eckig, und Cate hätte ihn gehasst. » Wie von Albert Speer«, hätte sie wohl gesagt. Ihre Eltern hatten ihn ausgewählt. Nicholas erinnerte sich an den getippten, förmlichen Brief, in dem sie ihn um neuntausend Pfund für das Begräbnis, die Grabmiete und ein » nettes Angebot der Stadtverwaltung, Frühlings- und Sommerblumen auf dem Grab zu pflanzen« baten. Zum hundertsten Mal las er die goldene Grabinschrift.
In Gottes liebenden Armen.
Stimmte es? Er konnte sie hier nicht fühlen. Nicht dass sie unter ihm lag. Nicht dass sie ihn von oben beobachtete. Die Luft war kühl für einen Sommertag und fühlte sich nach dem Regen leer und flüchtig an. War sie für alle Zeit in der lautlosen Endlosschleife gefangen, die sich in dem hallenden Badezimmer in Ealing abspielte? War sie vollständig verschwunden, zusammen mit dem Funken in ihrem Gehirn erloschen?
In Gottes liebenden Armen.
» Ich gehe«, flüsterte er.
Er wartete. Auf ein Zeichen. Auf ein Flüstern des Winds. Auf irgendetwas, das ihm sagte, sie hatte ihn gehört und wollte, dass er blieb.
Die Weiden verhielten sich still. Ein Auto mit einem Sportauspufftopf ratterte auf der North Boundary Road vorbei. Nichts.
Nicholas stand auf und ging.
Drei Tage später lag er auf der andern Seite der Erde auf dem Bett im Kinderzimmer seiner kleinen Schwester und lauschte dem Regen, der als endlose dunkle Woge vom Himmel stürzte.
Er war jetzt zu Hause.
Doch womit war er nach Hause gekommen? Mit einem Ehering, der ihn mit einer toten Frau verband. Ein paar tausend Dollar. Ein paar schicken Hemden von Ben Sherman.
Siebzehn Jahre. Und er kam mit nichts zurück.
Und seine Mutter, was war da geschehen? Kein neuer Mann. Dasselbe Haus. Zwanzig neue Teekannen. Nichts.
Regen. Gesichter. Tote. Bäume.
DING DONG.
Die Türglocke: ein mechanisches Ding aus Bakelit, das zwei unmelodische Töne von sich gab, einen, wenn man den glatten, abgenutzten Klingelknopf drückte, den anderen, wenn man ihn losließ.
Nicholas blinzelte und angelte seine Armbanduhr von dem rosa Nachttisch. Es war beinahe zwei Uhr morgens.
DING DONG.
» Mum?«, rief er.
Er schwang die Beine aus dem Bett, setzte sich auf.
DING DONG.
» Ich komme!«
Als er am Schlafzimmer seiner Mutter vorbeiging, hörte er ein gewaltiges Schnarchen, das zu einem Kraftmenschen aus dem Zirkus gepasst hätte.
» Wieso verstehe ich es nicht?«, sagte er zu sich selbst.
Den Flur entlang. Aus alter Gewohnheit fanden seine Finger den Schalter für das Außenlicht. Er stieß die Eingangstür auf.
Zwei Polizeibeamte in Regenmänteln warteten auf dem Absatz. Einer war groß und dunkelhaarig und stand vorn, um das Reden zu übernehmen. Der andere, noch größer und mit hellem Haar, wartete dahinter, bereit, nötigenfalls den schmiedeeisernen Handlauf zu verbiegen oder einen Baum zu entwurzeln, um eine Flucht zu verhindern.
» Guten Abend«, sagte der dunkelhaarige Polizist. Nicholas taufte ihn in Gedanken » Fossey«. » Verzeihen Sie, dass wir Sie geweckt haben. Wir gehen von Tür zu Tür, um Informationen über einen Jungen zu sammeln, der verschwunden ist.«
Auf das Stichwort hin hielt der Gorilla hinter ihm das in Folie eingeschweißte Farbbild eines blonden, siebenjährigen Jungen hoch, der in die Kamera strahlte. Nicholas zuckte zusammen.
Es ist Tristram. Aber Tristram ist seit fünfundzwanzig Jahren tot.
Er beugte sich vor, um das Bild genauer zu betrachten.
Es stammte aus neuerer Zeit. Im Hintergrund war ein LCD-Fernseher zu sehen. Der Junge trug ein Spiderman-3-T-Shirt. Nichtsdestoweniger sah er Nicholas’ Freund aus Kindertagen unheimlich ähnlich.
Der ermordet wurde, rief er sich ins Gedächtnis.
Sein Herz schlug heftig. Er schüttelte den Kopf. » Habe ich nie gesehen.«
Aber die Beamten hatten den Schauder des Erkennens bemerkt. Sie wechselten einen Blick und sahen Nicholas dann wieder ruhig an.
» Sind Sie sicher, Sir?«, fragte Fossey.
» Ja. Wirklich. Ich bin erst am Abend aus Übersee zurückgekehrt.«
» Heute Abend? Um welche Zeit?«
» Etwa halb zehn.«
Nicholas leckte sich die Lippen. Die Polizisten rührten sich nicht von der Stelle.
» Sind Sie direkt nach Hause gefahren?«
» Ja.«
» Haben Sie irgendwo angehalten?«, fragte der Gorilla.
Ja, dachte Nicholas. Am Wald. Er hatte am Wald angehalten, erstaunt, ihn dicht und kräftig wie eh und je zu sehen. Er war halb bis zum Waldrand gegangen. War von ihm angezogen worden. Aber warum? Er konnte es sich
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