Der Sog - Thriller
gesehen. Aber es war nie für dich bestimmt, Nicholas Close. Dich wollte ich voll ausgereift haben.« Sie blickte wieder zur Wärme des Feuers. » Deshalb habe ich Ihn gebeten, dich zurückzuschicken.«
Nicholas spürte plötzlich, wie sein Herz heftiger schlug. Sein dumpfes Pumpen ließ ihn beben.
» Wie meinen Sie das?«
Sie lächelte, makellos weiße Zähne wechselten sich mit einem rostroten, fast zahnlosen Gaumen ab.
» England war zu weit weg. Viel zu weit. Deshalb habe ich Ihn gebeten, dich nach Hause zu bringen«, sagte sie. » Und hier bist du nun.«
Vor Nicholas Augen tanzten Sterne, und er spürte, wie ihm das Blut aus dem Gesicht wich. Dann kamen Erinnerungen an aufblitzendes Grün; das Rattern eines Motorrads; ein kurzer Blick auf ein nicht menschliches Gesicht im dunklen Gewirr eines Eichenwäldchens; Cates Hals, der zu weit über den Emailrand der Badewanne gebogen war, die offenen Augen, von einer Patina aus Verputzstaub getrübt.
» Was haben Sie gemacht?«, flüsterte er.
Sie stieß ein Lachen aus, das zugleich hell und hübsch wie zarte Glocken war und kiesig und von Moos überwuchert wie ein verstopfter Abfluss. Ihre Augen ruhten voller Freude auf ihm.
» Mein Hübscher. Ich habe getan, was ich tun musste. Ich will, dass wir zusammen sind.«
Sie kannte den Geruch.
Nichts daran war auch nur eine Spur gut. Es war der saure Geruch von Fäulnis und nassem Halbdunkel, der Geruch von schlechter Erde und verwestem Fleisch. Hannah erinnerte sich an einen solchen oder ähnlichen Geruch von einer Gelegenheit, bei der sie ihren Vater unter das Haus begleitet hatte, wo sie geduckt zwischen den Pfosten umhergekrochen waren, über feuchte Erde, auf die nie ein Sonnenstrahl fiel, bis sie das tote Opossum gefunden hatten. Seine grauen Knochen waren aus einem stechend riechenden Fetzen von Pelz hervorgeragt, aus irgendwelchem grünen Zeug und weißem Gewimmel. Maden. Der Geruch des Todes hatte sie würgen und rasch wieder an die frische Luft streben lassen. Diesen Luxus hatte sie jetzt nicht.
Sie stand aufrecht, konnte aber nichts sehen und sich nicht bewegen. Ihre Beine waren stramm eingewickelt, und ihre Arme waren festgebunden und an den Körper gekrümmt. Ihre Augen waren geschlossen, und sie konnte sie nicht öffnen: Eine zweite Haut hatte sich von Kopf bis Fuß über ihren Körper gelegt, nur unter den Nasenlöchern war ein Stückchen frei geblieben. Strähnen, fein wie Babyhaar kitzelten sie in der Nase, wenn sie die schale, erdige Luft einatmete.
Aber sie wusste, was sie da festhielt. Sie war festgeschnürt, wie es ihrer Vorstellung nach Miriam widerfahren war: eingewickelt in Spinnweben, um bei lebendigem Leib darauf zu warten, von krabbelnden Biestern mit scharfen Zähnen und starren Augen verspeist zu werden.
Heiße Panik durchströmte sie, und sie hatte Mühe, ihre Eingeweide unter Kontrolle zu halten. Idiotin, dachte sie zum tausendsten Mal, seit sie Nicholas – oder was sie für Nicholas hielt – von der Suche nach Miriams Stimme zurückkommen sah. Er hatte gelächelt und gesagt: » Nur der Wind.« Dann hatte er den Arm ausgestreckt. » Aber was zum Teufel ist das?« Sie hatte sich umgedreht, um seinem Arm zu folgen, und erst im letzten Moment begriffen, dass sie auf den ältesten Trick der Welt hereingefallen war. Ein harter Gegenstand war auf ihr Schädeldach heruntergesaust, und plötzlich fehlten ihr ein paar Minuten. Sie war auf dem Boden liegend erwacht, die Hände auf den Rücken gebunden, die Knie gefesselt und mit einem Knebel im Mund. Als würde sie in einen Zauberwaldspiegel blicken, sah sie sich selbst dann auf der dunkel werdenden Lichtung stehen und zu sich zurücklächeln. Die Haare auf ihren Armen und Beinen wurden zu Drähten, und ihr Zwilling rief in ihrer Stimme: » Nicholas!«
Der echte Nicholas – der mit einem Gewehr, du Doofie! – war angerannt gekommen, hatte Hannah angesehen und die Augen aufgerissen. Er hatte das Gewehr angelegt, und gerade, als sie dachte, nun würde sie mit Sicherheit sterben, hatte er den Lauf zur Seite gerissen. Dann, peng!, war ein Stich zehnmal schlimmer als von jeder Biene wie eine heiße Nadel in ihre linke Wade gefahren, die jetzt höllisch wehtat. Tränen waren ihr über das Gesicht gerollt, während sie beobachtet hatte, wie ihr Zwilling eine Spritze hervorholte und sie in Nicholas stach. Er war zusammengeklappt wie eine Puppe, und dann war ihr Zwilling zu ihr gekommen. » Schlaf gut«, hatte die andere Hannah gesagt und ihr die
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