Der Sog - Thriller
da sie den Knebel ausgespuckt hatte, schrie, würde die Hexe sie mit Sicherheit hören. Sie schloss die Augen und konzentrierte sich auf die Buchstaben.
Z-E-I-T. Z-E-I-T. Tick tack. Tick tack macht die Uhr … Ehe ihr klar war, was sie tat, bewegte sie ihre Beine ein Stück nach links und ließ sie dann zurückfallen. Den Schwung nutzte sie aus, um sie nach rechts anzuheben. Und fallenlassen. Tick Tack. Sie kam in einen Rhythmus, ein menschliches Pendel, das an der Wand hin und her schwang. Sie fragte sich nicht, wozu; sie wusste, es fühlte sich richtig an. Bei jedem Schwung strengte sie sich an und kam höher und höher. Sie spürte, wie ihr Rücken, ihr Hintern, ihre Ellbogen, ihre Fersen an der Erde scheuerten und die Seide durchrieben. Das ist es. Scheuern! Tick! Scheuern! Tack! Sie schwang nach links, schwang nach rechts. Um ihre Brust fühlte sich der enge Kokon schon ein wenig lockerer an. Ihre verschnürten Knöchel wurden etwas freier. Feuchte, kalte Erde rieselte in ihr Shirt, an ihrem Rücken hinunter. Linksschwung, scheuern … Rechtsschwung, scheuern … ein bisschen höher noch, ein bisschen höher … Sie konnte ihre Arme beugen, ein klein wenig nur, aber dieses wenige verschaffte ihr den Platz, sich während der Schwünge aufzuplustern und zusammenzuziehen. Ein paar Mal noch! Jetzt konnte sie ihre Beine einige Zentimeter auseinanderspreizen. Sie konnte mit den Schultern zucken. Sie konnte mit der Hand über ihren Bauch fahren. Ja! Einmal noch! Sie schwang …
Und spürte, wie ein Feuer über ihre Schulterblätter strich. Sie jaulte auf. Sie hatte mit ihrem Scheuern an der Erde einen scharfkantigen Stein freigelegt, der ihr tief ins Fleisch gedrungen war, als sie darüberschwang. Es fühlte sich an, als wäre eine Linie aus kochendem Öl von einer Schulter zur andern gezogen worden. Heiße Tränen schossen ihr aus den Augen, und sie biss sich heftig auf die Unterlippe, um den Schrei zu unterdrücken, der aus ihrem Mund drängte. Sie hörte auf zu schaukeln.
Und grinste trotz der Tränen triumphierend. Sie stand mit den Füßen auf dem Boden.
Laine sah, wie der allerletzte Rest Tageslicht verblasste. Ein schmaler Streifen Kobaltblau, das die Hügel im Westen küsste, wurde vom schwarzen Bogen der Nacht abgelöst.
Sie wandte sich an Katharine. Sie hatten gezögert und es hinausgeschoben, in der Hoffnung, Nicholas würde doch noch zur Tür hereinspazieren, aber jede Minute, die verrann, erhärtete ihren Verdacht: dass er nie in die Bibliothek gegangen war, sondern sich in den Wald geschlichen hatte, um allein mit Quill abzurechnen.
» Er steckt in Schwierigkeiten«, sagte Katharine.
Laine nickte.
Dann hörten sie einen Schlüssel in der Eingangstür.
» Nicholas?«, rief Katharine.
» Mum?«, rief Suzette.
Sie war halb durch den Flur, als sie offenbar einen Blick in ihr altes Schlafzimmer warf und sah, was dort mit einer Mistgabel auf den Boden gespießt war – sie stieß einen schrillen Schrei aus. Katharine und Laine liefen zu ihr.
Die beiden Frauen wurden einander in aller Eile vorgestellt, aber Laine fühlte eine Wärme, als sie Suzettes Hand nahm. Sie mochte die Frauen der Closes.
Sie erklärten Suzette, dass Nicholas nicht nach Hause gekommen war.
» Dieser verdammte Trottel«, sagte Suzette.
» Tja«, sagte Laine. » Dann müssen wir ihn wohl holen.«
Die drei Frauen sahen einander an und lächelten.
» Ja«, sagte Katharine. » Wir werden ein paar Dinge brauchen.«
Laine hatte Mühe, ein nervöses, irres Kichern zu unterbinden, als sie sah, wie Katharine die Mistgabel aus der Masse zog, die einmal Garnock gewesen war. Die gewaltige Spinne verweste in einer Geschwindigkeit, die an Zeitrafferfilme erinnerte, wo Blumen binnen Sekunden Knospen trieben, blühten, welkten und starben. Als Katharine die Gabel herausriss, zerfiel der Kadaver zu einer grauen, stechend riechenden Suppe, die beide Frauen zum Würgen brachte und über der es – ironischerweise, wie Laine dachte – nur so vor Fliegen wimmelte.
Suzette eilte im Dämmerlicht nach hinten zum Gartenhäuschen, wo sie zwei Spaten mit silbern glänzenden Schaufeln und scharfen Rändern fand.
Katharine zog unter der Spüle in der Küche eine Taschenlampe, Ersatzbatterien und eine weitere Dose Insektenspray hervor.
Sterne schlugen am schwarzen Himmel die Augen auf, als sie die Haustür hinter sich zuzogen. Katharine vergewisserte sich, dass sie abgeschlossen war, dann eilten die drei Frauen zur Carmichael Road
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