Der Sog - Thriller
Nadel in den Arm gestoßen. Vor etwa zehn Minuten war sie in diesem Zustand aus einem schwarzen Schlaf erwacht, eine Fliege, gefangen im Wartezimmer der Spinne.
Hannah bemerkte, dass sie weinte. Das würde ihr bestimmt ungeheuer viel helfen.
» Hilfe!«, rief sie.
Ihre Stimme klang gedämpft, geschluckt von der Finsternis. Es war, als würde sie aus einem Schrank voller Kleidung schreien. Der erstickte Klang und der ranzige Buttergeruch nach Erde bestätigten ihr, dass sie sich an einem unterirdischen Ort befand. Es war, als wäre sie bereits tot.
Hannah rechnete damit, dass diese Erkenntnis zu noch schlimmerem Weinen führen würde, aber stattdessen stellte sie fest, dass ihre Tränen trockneten und ein warmes Gefühl sich in ihrem Bauch ausbreitete. Wie konnten sie es wagen? Wie konnten sie es wagen, kleinen Mädchen so etwas anzutun? Sie verstand, warum ihre Eltern so wütend wurden, wenn sie das Ergebnis von Bombenanschlägen in Straßen des Mittleren Ostens sahen, warum Männer und Frauen ebenso vor Wut wie vor Schmerz aufheulten, wenn sie die leblosen Körper von Kindern aus dem Schutt zogen. Wie konnten sie es wagen! Nein, so würde sie nicht sterben, eingewickelt wie ein hilfloses Baby.
Sie konzentrierte sich und versuchte, sich ihre Lage vorzustellen. Ihre Füße setzten nirgendwo auf. Sie hing senkrecht. Ihre Fersen, der Rücken und die Schultern drückten gegen etwas Hartes, Kaltes – die Erdwand. Sie war aufgehängt wie eine Lammhälfte. Sie trat probehalber mit ihren gebundenen Beinen gegen die Wand hinter ihr und hörte Erde rieseln und ein schwaches Klirren wie von Glas. Sie trat noch einmal. Ein weiterer kleiner Erdrutsch, ein weiteres Klirren wie von Gläsern in einem Regal. Wenn sie nur sehen könnte. Es gab nur einen Weg, wie sie das möglich machen konnte.
Sie zwang ihren Mund auf und streckte die Zunge zwischen den Zähnen durch. Sie berührte eine fasrige Haut, und sofort stellten sich alle Haare an ihrem Körper auf, und ihr Magen rebellierte. Komm schon, sagte sie sich. Es geht nicht anders. Sie öffnete den Mund wieder, weiter diesmal. Sie spürte, wie sich die fesselnde Seide um ihre Kiefer dehnte. Komm schon. Sie schloss und öffnete den Mund wiederholt so weit sie konnte, die Muskeln am Hals arbeiteten wie wild. Komm schon. Und schließlich spürte sie, wie das furchtbare Gewebe ein wenig riss.
Sie streckte die Zunge heraus und spürte die rauen Ränder der zerrissenen Seide. Sie schlang die Zunge darum und zog sie in den Mund. Nur ein bisschen, dachte sie. Mehr brauche ich nicht, um die Augen freizubekommen. Sie zog die geschmacklosen Weben zwischen die Zähne und mahlte darauf herum – es fühlte sich an, als würde sie ihre eigene Gesichtshaut essen, und sie schnitt eine angeekelte Grimasse. Aber die Seide über ihren Lidern rutschte ein wenig. Sie öffnete den Mund und würgte, ihr Magen hob sich und ließ schließlich los, und ein warmer Schwall sauren Breis schoss aus ihrem Mund. Sie spie und schniefte. Ihre Augen ließen sich einen Spalt öffnen.
Es war unmöglich, die Größe des Raums zu schätzen, da es fast vollkommen dunkel war. Die Tintenschwärze wurde nur durch drei schwache Lichtschlitze durchbrochen, die auf eine Treppe aus alten Ziegelsteinen herunterleuchteten. Die gegenüberliegende Wand wurde von Dunkelheit verschluckt – was Hannah anging, hätte sie drei Meter so gut wie dreihundert entfernt sein können. Sie wandte den Kopf nach rechts. Aus dem Augenwinkel konnte sie gerade noch die Wand ausmachen, an der sie hing. In ihre Erde waren waagrechte Regalreihen eingeschnitten, und auf ihnen standen Gläser über Gläser. Das hatte also gerattert. Sie drehte den Kopf nach links und unterdrückte einen Schrei.
Der Schädel, der sie ansah, hatte den Mund offen. Die Spinnweben, die das mumifizierte Kind fesselten, waren längst grau geworden und hingen nun verdrießlich durch. Die Haut des Kinds war schwarz wie altes Buchleder. Lockiges schwarzes Haar schaute stumpf zwischen der rauchigen Seide um seinen Schädel hervor. Seine Augenhöhlen waren mit frischeren Spinnweben überbaut worden.
Hannah wandte den Blick ab, ihr Herz überschlug sich. Wie lange war sie schon hier? Wie lange würde sie hier hängen müssen, bis sie zu schwach war, um etwas zu unternehmen und dasselbe Schicksal wie der Junge nebenan erleiden würde? Wie viel Zeit hatte sie? Eine neue Tränenflut stieg in ihr auf und drohte auszubrechen. Wie viel Zeit?
Zeit.
Zeit. ZEIT.
Wenn sie jetzt,
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