Der Sog - Thriller
beiden Kindern, jemals wieder am Wald an der Carmichael Street vorbeizugehen.
6
2007
Nicholas sah seine jüngere Schwester aus dem Taxi steigen, ihr redseliges weißes Lächeln blinzelte dem Taxifahrer zu, der ihre Taschen auslud. Er ließ die Jalousie herunterfallen und sank aufs Bett. Suzette hatte weder Mann noch Kinder auf diese Reise mitgenommen, um ihren trauernden, verwitweten Bruder zu sehen. Ich werde freundlich sein, beschloss er. Ihre Fragen beantworten. Ihre Anteilnahme entgegennehmen. Sie morgen wieder nach Hause schicken.
» Deine Schwester ist da!«, rief Katharine fröhlich.
» Ich weiß«, rief Nicholas in gleichem Tonfall zurück.
Das Rattern des Türriegels, das Gezwitscher der Begrüßungen und Komplimente, Rascheln von Plastiktüten, freundliche Schritte. Dann stand Suzette mit verschränkten Armen in der Tür.
» Raus aus meinem Zimmer!«
Das letzte Mal hatte er sie bei seiner Hochzeit in Osterley Park gesehen. Ihr Haar war jetzt länger, aber sie war immer noch groß, blass und hübsch, mit einer Haltung wie ein Türsteher.
» Nein.«
» Es ist mein Zimmer.«
» Jetzt nicht mehr.«
» Ich sag es Mum.«
» Dann bist du eine dreckige kleine Petze.«
» Muuum!«, brüllte sie derb wie ein betrogenes Fischweib. » Sag Nicholas, er soll aus meinem Zimmer verschwinden!«
» Nicholas, gib deiner Schwester ihr Zimmer zurück«, rief Katharine. Das Lächeln in ihrer Stimme verriet, dass sie das alte Spiel genoss.
Nicholas seufzte und stand auf. Er ging auf seine Schwester zu. Sie grinste. Er küsste sie auf die Wange. Sie packte und drückte ihn. Er sank in ihre Umarmung. Sie rieb ihm den Rücken.
» Ach, mein Lieber«, sagte sie.
Suzette spürte, wie er sich sanft aus ihrer Umarmung löste, sah ihn das Gesicht abwenden und hörte ihn vorschlagen, er könne unten » Tee oder was machen«, während sie auspacke, dann war er im Flur verschwunden. Der Raum fühlte sich kaum leerer an ohne ihn. Sie hatte nicht erwartet, dass er so … vergangen aussehen würde.
Sie stand einen Moment in ihrem alten Zimmer und versuchte, den dünnen, unwirklichen Mann mit der Stimme in Einklang zu bringen, die sie vor gerade einer Woche am Telefon gehört hatte. Er hatte so gut, so ausgeglichen und normal geklungen, dass keine Alarmglocken geschrillt hatten. Suzette tadelte sich selbst. Sie war stolz darauf, ein Gespür für Menschen zu haben, ihre Mienen gut lesen, ihre Stimmungen erraten und subtile Ausdrucksformen entschlüsseln zu können – und doch war ihr dieser gewaltige Fehler passiert, und sie hatte übersehen, dass ihr eigner Bruder über jene dämmrige Grenze an einen dunklen und fremden Ort gerutscht war. Wie das? Er hatte am Telefon in London so vernünftig geklungen. Nein, komm nicht zur Beerdigung. Sie ist tot. Danke, aber Nelson und Quincy brauchen dich dort. Cates Familie kümmert sich um mich. Ich komme schon klar. War er ein so guter Lügner? Oder sagte er nur, was sie hören wollte, um sie von dem anstrengenden Flug und der Kraft raubenden Belastung einer Beerdigung freizusprechen?
Sie hob ihre Koffer auf das Einzelbett. Die Federn ließen ein vertrautes Quietschen hören, da sie ihre alte Schlafgefährtin wiedererkannten. Sie zog den Reißverschluss des größeren Koffers auf und holte ihren Kulturbeutel und die Schminktasche heraus.
Sie hatte versagt. Sie und ihre Mutter. Schon vor Cates Unfall hatte er genug Tod für ein Menschenleben gesehen. Jetzt sah er selbst aus wie der Tod.
» Tee ist fertig«!«, rief Katharine aus der Küche und dazu klapperte Besteck auf Porzellan.
» Ich komme!«
All diese Fröhlichkeit. Freundliche Stimmen, Kekse und Tee. Kein Wunder, dass Nicholas so fertig war. So hatte man ihnen beigebracht, mit Kummer und Schmerz umzugehen: eine Tasse Tee, dann zurück zur Wäsche, in die Arbeit oder ein paar Rechnungen bezahlen. Immer fleißig bleiben, andere Leute nicht stören, es gibt schon genug Probleme auf der Welt, auch ohne deine eigenen. Das war das Motto in der Lambeth Street. Total beschissen.
» Dalli!«, rief Nicholas.
» Ich komm ja schon. Himmel …«
Vielleicht war es noch nicht zu spät. Sie war hier, oder? Sie musste gespürt haben, dass etwas nicht stimmte, weil …
Sie zog ein kleines, in Seidenpapier gewickeltes Päckchen aus dem Koffer. Das würde vielleicht helfen. Sie ließ das Päckchen in ihre Tasche gleiten.
» Ich nehme keinen Zucker mehr!«, rief sie fröhlich und eilte den Flur entlang.
Katharine ließ ihre Kinder den Abwasch
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