Der Sog - Thriller
machen und hängte ihr Ohr in ihre Unterhaltung wie ein Angler, dem es im Grunde egal ist, ob er etwas fängt. Nicholas fragte nach seinem Neffen und seiner Nichte. Nelson ging es gut. Sein sechster Geburtstag war unter dem Motto » Piraten« gestanden, und er hatte zu viele Geschenke bekommen, weshalb Suzette und Bryan die Hälfte davon in die Läden zurückgebracht hatten. Quincy genoss ihre Vorschule und hatte sich angewöhnt, durch Bryans altes Teleskop den Mond zu beobachten, was Suzette aus irgendeinem Grund freute.
Katharine ging Wäsche falten. Ihre Familie war wieder zusammen. So weit es eben ging.
Was sollte sie jetzt tun? Sie war aus der Übung. Erwartete man, dass sie weise war? Sollte sie erklären, wie sie damit fertig geworden war, als Don sie verließ? War es Zeit, ihnen zu sagen, wie ihr das Herz im Hals geschlagen hatte, als sie ein paar Nächte zuvor die beiden Polizisten an ihrer Tür gesehen hatte? Dass sie das ohnmächtige Gefühl gehabt hatte, durch die Zeit zu einer Nacht vor mehr als dreißig Jahren zurückgerissen zu werden, als zwei Polizisten an dieselbe Tür geklopft und ihr mitgeteilt hatten, es habe einen Unfall gegeben und Don sei am Steuer gesessen? Erwartete man, dass sie alles richtete?
Sie legte das letzte Handtuch zusammen und glättete es zu einem scharfen Falz. Nein. Ihr Schmerz war ihrer, und Nicholas’ war seiner. Er würde damit fertig werden müssen.
Und der tote Junge? Ein Kind verschwindet in der Nacht, in der Nicholas zurückkommt. Was bedeutet das? Nicholas hatte einen Vater verloren, einen Freund, eine Ehefrau … und jetzt war er wieder da, und es gab neuen Tod. War er eine Art grimmiger Todesbote? Sie dachte an die Nacht, in der er zur Welt gekommen war. Es war ein Sonntag gewesen. In Dons Lächeln hatte sich Stirnrunzeln gemischt. » Komischer Tag«, hatte er immer wieder gesagt. War es ihr Pech, das auf ihn übergegangen war? War es das von Don? Oder steckte etwas noch Unheilvolleres dahinter?
» Hey.«
Katharine fuhr beim Klang von Suzettes Stimme hinter ihr zusammen. Sie versuchte zu verbergen, wie wild ihr Herz klopfte. Was hatte sie nur gedacht? So ein Unsinn. Altweibergeschwätz. » Was habt ihr jetzt vor?«
» Wir machen einen Spaziergang. Brauchst du etwas?«
Was ich brauche, ist, dass ihr hierbleibt, wäre es Katharine beinahe entfahren. Wo war das hergekommen? » Könnt ihr Milch mitbringen?«
Eine Minute später war sie in Suzettes Schlafzimmer und beobachtete, wie ihre Kinder das vordere Tor hinter sich schlossen. Sie gingen in Richtung Myrtle Street hinunter, genau wie sie es vor fünfundzwanzig Jahren getan hatten – ihre Tochter, immer noch mit dem braunen Haarschopf, den sie schon als Kind gehabt hatte, und ihr Sohn, hochgewachsen und hell, aber mit einer Kranichstatur, die ihr so vertraut war, dass sie hätte schwören können, Donald weggehen zu sehen. Die Haare in ihrem Nacken stellten sich auf. Sie hatte den plötzlichen Drang, das Fenster aufzureißen und ihrem kleinen Mädchen zuzurufen: » Geh weg von ihm! Er wird in seinen Tod rennen und dich mitnehmen!«
Sie strich ihr Kleid glatt, um den törichten Gedanken auszulöschen, dann ging sie ins Wohnzimmer und drehte den Fernseher laut auf.
Das kalte, orangefarbene Feuer der Kapuzinerkresse brannte auf den Hängen des Damms, die zur Eisenbahntrasse hinunterführten. Zwei Paare silberner Schienen krümmten sich wie eine gigantische Kalligrafie zu einer Kurve in der Ferne. Die Geschwister waren von dem nahen 7-Eleven gekommen und unter einem rostigen Maschendrahtzaun hindurchgeschlüpft, um sich auf moosbewachsene Felsen auf der Oberseite des Damms zu setzen. Von hier konnten sie bis zum Bahnhof von Tallong und seiner sechzig Jahre alten hölzernen Fußgängerüberführung über die Gleise schauen. Dahinter zogen sich rote und grüne Dächer zwischen den Bäumen die Hügel der Vorstadt hinauf. Sie erinnerten Nicholas an die Häuschen auf einem Monopolybrett, verschiebbare Objekte in einem größeren Spiel. Er kaute Fruchtpastillen. Suzette aß Karamellmais aus einer grellbunten Tüte. Über ihnen zogen Wolken von der Farbe von Taubenflügeln in loser Reihenfolge. Es ging auf den Abend zu.
Der Smalltalk war erledigt. Nicholas hatte nach Bryan gefragt (es ging ihm gut, er erholte sich gerade von einer Erkältung), nach den Lehrern der Kinder (tüchtig, wenn auch ein bisschen zu weich für solche eigensinnigen kleinen Rabauken), nach Suzettes Arbeit als Investmentberaterin (läuft sehr
Weitere Kostenlose Bücher