Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Der Sog - Thriller

Titel: Der Sog - Thriller Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Blanvalet-Verlag <München>
Vom Netzwerk:
Eisenbahnlinie. » Was ist da?«
    Nicholas blickte umher. Und da, zweihundert Meter entfernt blitzte es narzissengelb auf. Das Mädchen kam langsam den steilen Hang von Battenberg Terrace herunter, ihr Körper war ganz, ihr Gesicht ein verschmierter Daumenabdruck.
    Nicholas’ Herz trommelte in der Brust.
    » Nichts.«
    Suzette runzelte skeptisch die Stirn. » Ach ja …?«
    Nicholas steckte die Hände in die Taschen. Er war erst ein paar Tage aus London fort, und schon hatte er sein Pokerface verloren. Die Sonne ruhte jetzt auf Dachfirsten im Westen, und hier im Schatten war die Luft kalt geworden. Die Erde unter den runden Lilienblättern der Kapuzinerkresse war schwarz. Er wandte dem Bahnhof den Rücken zu. Er wollte das nicht noch einmal sehen.
    » Wir sollten nach Hause gehen«, schlug er vor.
    Suzettes Blick ging vorsichtig zwischen ihm und den Gleisen hin und her. Dann reckte sie das Kinn vor und fixierte Nicholas mit einem harten Blick.
    » Ich war in ihn verliebt, weißt du.«
    » In wen?«
    » Tristram.«
    Nicholas blinzelte, verwirrt von dem Themenwechsel. » Wusste ich nicht.« Er dachte kurz nach. » Das ist lächerlich. Wie alt warst du? Neun?«
    » Acht.« Sie holte Luft. » Ich habe ihn ein paarmal gesehen.«
    » Du hast ihn mehr als ein paarmal gesehen. Er war jedes Mal bei uns, wenn seine verdammten Eltern ein Nickerchen machen wollten.«
    Suzettes Augen fixierten ihn weiter. » Nein. Ich habe ihn gesehen, nachdem er gestorben war.«
    Nicholas spürte, wie sich die Luft um ihn herum plötzlich verdichtete. Sein Herz pochte langsam, in langen Schlägen, als hätte sein Blut die Konsistenz arktischen Meereswassers angenommen, das kurz davor war, zu Eis zu werden.
    » Wo?«, flüsterte er.
    Suzette sah ihm in die Augen. » Wie er in den Wald lief.«
    Sie stand auf und staubte die Rückseite ihrer Jeans ab. » Gehen wir.«
    Sie kletterten durch den rostigen Zaun zurück und hinunter auf die Straße. Der Himmel im Westen büßte sein letztes Brennofenglühen ein und wurde purpurn und dunkel. Vögel beeilten sich, einen geschützten Platz zu finden, ehe das letzte Licht verschwunden war. Ein kalter Wind kam
auf.
    Etwa einen Monat, nachdem man Tristram ermordet aufgefunden hatte, war Suzette entgegen der Weisung ihrer Mutter zur Carmichael Road hinuntergegangen. Dort, auf dem Kiespfad im Grasstreifen, hatte sie Tristram niederknien, etwas aufheben und dann in den Wald laufen sehen. Der Anblick hatte ihr entsetzlich Angst gemacht.
    » Ich schätze, ich habe mich so gefühlt, wie du gerade ausgesehen hast«, sagte sie und lächelte dünnlippig. » Als hättest du einen Geist gesehen.«
    Sie beobachtete ihren Bruder. Seine dunklen Augen konzentrierten sich auf den brüchigen Fußweg. Er zeigte keine Regung. Schließlich sprach er.
    » Siehst du sie immer noch?«, fragte er. » Geister?«
    Sie schüttelte den Kopf. » Ich habe ihn noch zweimal gesehen. Ich habe mich eines Nachmittags hinuntergeschlichen, als du krank warst, und dann noch einmal, als Mum arbeiten war oder was. Er hat wieder das Gleiche getan. Etwas aufgehoben, dann war er zurückgewichen, in den Wald gerannt.« Sie zuckte mit den Achseln. » Aber danach habe ich ihn nie wieder gesehen. Oder irgendwelche andern.«
    Sie sah, wie er langsam nickte. Er stieß einen langen Atemzug aus. Er war im Begriff, ihr etwas zu erzählen.
    » Warum nicht?«
    » Ich weiß es nicht«, erwiderte sie. » In manchen Büchern heißt es, dass die Pubertät hellseherische Fähigkeiten oder das zweite Gesicht entweder verstärkt oder erstickt, aber so war es bei mir nicht. Vielleicht war es nur ein kurzes Aufblitzen bei mir. Oder aber Tristram hatte seine rechtmäßige Zeit erreicht.«
    » Rechtmäßige Zeit? Wofür?«
    » Um zu sterben.« Sie konnte sehen, wie sich das Gesicht ihres Bruders anspannte, als er ihre Worte verdaute. » Denn genau das sind Geister, glaube ich«, fuhr sie fort. » Seelen von Menschen, die vor … na ja, der ihnen bestimmten Zeit sterben oder sich das Leben nehmen.«
    Nicholas’ Augen waren dunkle Hüllen unter einer grimmig gerunzelten Stirn.
    » Geister«, sagte er kaum wahrnehmbar flüsternd. » Darf ich dir etwas über Geister erzählen, Suze?«
    Bei seinen Worten begann ihr Herzschlag zu stolpern.
    Sie nickte.
    Er holte tief Luft und sprach dann sehr lange.
    Er erzählte ihr von dem Motorradunfall und wie er sich von dem pferdegesichtigen Paar, gegen das er geprallt war, ein Handy geliehen hatte. Wie er nach Hause geeilt war und Cate

Weitere Kostenlose Bücher