Der Sog - Thriller
hellwach. Er lebte und war im Begriff, Großbritannien zu verlassen. Cate war tot, seit drei unfassbar schrecklichen Monaten unter der Erde. Sie war von der Leiter gefallen, als sie bei seinem Anruf nach dem Motorradunfall ans Telefon gehen wollte, und hatte sich das Genick am Rand der Badewanne gebrochen.
Das kalte Gewicht dieser Erkenntnis drückte Nicholas tiefer in den Sitz. Er schluckte schwarze Galle und wischte sich über die Nase. Das kleine Mädchen auf der andern Seite des Gangs sah ihn missbilligend an. Der Flug dauerte eine Ewigkeit. Er drehte seine Armbanduhr in das wenige Licht, das es gab.
» Alles in Ordnung, Sir?«
Er blinzelte.
Eine Stewardess blickte auf ihn herunter, die Stirn besorgt in Falten gelegt. Ihr Gesicht war blass, aber ihre Wangen waren rosig, und auf der Nase hatte sie Sommersprossen. Sie war jung.
» Verzeihung?«
Die Stewardess beugte sich weiter zu ihm herab und flüsterte: » Alles in Ordnung, Sir? Sie haben im Schlaf … so ein Geräusch gemacht.« Sie hielt ihm ein Papiertaschentuch hin.
» Oh.« Da er nicht wusste, was er sonst tun sollte, nahm er das Taschentuch. » Es geht mir gut.« Eine Lüge, damit sie weiterging.
» Schlecht geträumt?«
» Ja.« Noch eine Lüge. So, jetzt konnte sie gehen.
Aber sie blieb. Das kleine Mädchen auf der anderen Seite des Gangs hatte aufgehört zu malen und richtete sich auf.
» Das ist nicht gut. Wir wollen, dass unsere Passagiere gut schlafen.« Das strahlende Lächeln der Stewardess wirkte beunruhigend in der Dunkelheit.
» Wie aufmerksam.« Jetzt geh, bitte.
» Wir tun alles, damit sich unsere Passagiere in keiner Weise unwohl fühlen.«
Das kleine Mädchen zitterte. Nicholas bemühte sich, es nicht anzusehen. Er zwang seine Augen zu der Frau zurück und setzte ein Lächeln auf, das bestimmt fürchterlich aussah.
» Sie brauchen mich nicht zu bezirzen. Ich bin bereits im Flieger.«
Das Lächeln der Frau bekam Risse, aber das interessierte Nicholas jetzt wirklich nicht. Das Mädchen zuckte inzwischen in Krämpfen, seine Beine schlugen wild, und es fasste sich mit den Händen an den kleinen Hals. Sein Gesicht war dunkelrot, und der Mund ging auf und zu wie bei einem Fisch am Haken.
Die Stewardess gewann ihre Fassung wieder und unternahm einen neuen Versuch, sein Stirnrunzeln in ein Lächeln zu verwandeln. » Aber wir möchten, dass Sie wiederkommen. Noch eine Decke? Ein Kissen?«
Er nickte, dann schüttelte er den Kopf. Das Mädchen lief blau an, es hatte die Augen so weit aufgerissen, dass ein Fingerbreit gerötetes Weiß um die Pupillen herum zu sehen war. Schau nicht hin. Sag nichts. Es stürzte genau vor die bequemen, flachen Schuhe der Stewardess. Unsichtbare Finger rissen sein Oberteil auf und legten die flatternde kleine Brust und die Rippen frei.
Nicholas versuchte, nicht hinzusehen. Seine Stimme war ein raues Flüstern. » Nein, danke. Ich bin jetzt wach.«
Der Rücken des kleinen Mädchens bog sich durch, und sein Kopf wurde in einem grässlichen Winkel nach hinten gerissen. Es zuckte heftig, wie eine an Land geworfene Forelle, die mit unvorstellbarer Kraft auf und ab schlug, und dann brach es plötzlich in sich zusammen wie eine Sandburg, die von einer Welle unterspült wird, und lag reglos da.
» Tee? Oder Kaffee?«
Die toten Augen des Mädchens starrten erst an die Kabinendecke … und dann rollten sie zur Seite und fixierten Nicholas.
Nicholas schloss kurz die Augen, ehe er sie wieder öffnete, um die Stewardess anzusehen. » Woran ist das Mädchen gestorben?«, flüsterte er.
Die Frau blinzelte. » Verzeihung?«
Das Mädchen war plötzlich wieder in seinem Sitz. Seine Bluse war heil. Es beobachtete Nicholas, sein Blick war nicht deutbar. Als hätten sie ihren eigenen Willen, griffen ihre Hände nach dem Malbuch und der Wachsmalkreide und begannen ihr kindliches Geschäft von vorn.
Nicholas wusste, es wäre besser, wenn er einfach den Mund hielte. Aber es reizte ihn, dieses Lächeln aus dem Gesicht von British Airways zu tilgen.
» Hier ist gerade ein kleines Mädchen gestorben, oder nicht?«
Die Frau starrte Nicholas an, ihre Kiefer mahlten, während sie ein paar Entscheidungen traf. Er kannte diesen Blick. Der Blick sagte: Woher weiß er das? Ist er Reporter? Ist er geisteskrank? Ist er gefährlich?
» Woher …?« Alle Freundlichkeit war aus ihrer Stimme verschwunden.
Es war ihm tatsächlich gelungen, ihr das Lächeln aus dem Gesicht zu treiben, aber es heiterte ihn nicht im Mindesten auf.
Das
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