Der Sog - Thriller
ungleichmäßige Schnitt durch den vorderen Teil des Walnussschafts ging. Der abgetrennte Lauf war hässlich und wund wie eine Augenhöhle. Jammerschade um die gute Sako-Flinte, dachte Nicholas und war sofort entsetzt über seine Reaktion. Hätte es sich um eine Schlange oder eine Spinne gehandelt, hätte sein Körper automatisch mit einem Sprung zurück reagiert. Aber er lebte eben nicht in Bagdad oder Los Angeles; die Furcht vor Waffen war nicht in seine DNA eingearbeitet. Stattdessen nahm er es übel, dass ein prächtiges Gewehr so misshandelt worden war. Du verdammter Wichser, dachte er. Du hast es verdient zu sterben. Ein Gefühl wie kalter Gelee füllte seinen Magen aus.
Gavin hielt die Waffe ungezwungen so in der Armbeuge, dass ihre raue Schnauze auf Nicholas’ Bauchgegend zeigte.
» Eine Nachricht«, sagte Nicholas, dessen Mund plötzlich voller Speichel war, und dessen leerer Geleemagen auszubrechen drohte. » Von wem?«
Gavin betrachtete ihn lange. Es war, als schaute man in die Augen eines Insekts, dachte Nicholas – nichts Menschliches lag darin. Gavin zuckte wieder mit den Achseln und schüttelte den Kopf, als wollte er sagen: Das fällt mir gerade nicht ein. Mit einer leichten, sicheren Bewegung verlagerte er die Waffe so, dass die Mündung auf Nicholas’ Gesicht zeigte.
Und plötzlich war der kalte Gelee aus Nicholas’ Eingeweiden verschwunden. Stattdessen erfüllte ihn ein neuer, wärmender Gedanke. Da ist er – ein Ausweg. Und ich muss nichts dafür tun. Nur noch einen Moment hier stehen, dann ist es vorbei. Und aus dieser Wärme spross ein weiterer Gedanke. Keine Geister mehr.
Er sah in Gavins Gesicht. Die Augen des Mannes waren bis zum Rand voll Tränen und seine Wangen waren nass.
» Tris hat sich immer so gefreut, wenn du herübergekommen bist. An Samstagen. Käsebrote. Ihr habt Combat geschaut. Weißt du noch?«
Nicholas nickte. Die beiden Männer sahen einander lange in die Augen. In Nicholas’ Kopf formte sich eine ruhige Feststellung: Er wird mich jetzt erschießen.
» Ist in Ordnung, Gavin.«
Gavin nickte. Mit geübter Hand zog er den Hahn zurück und ließ eine Kugel in die Kammer fallen. In der Straße war es ruhig. Niemand ahnte, dass in wenigen Momenten ein Mann sterben würde.
Nicholas kam plötzlich zu Bewusstsein, dass sich seine Finger in der Tasche um etwas gewölbt hatten – Holzperlen und Stein. Das Halsband, das ihm Suzette geschenkt hatte.
Gavin legte den Kopf schief. Seine Augen hatten ihren Brennpunkt verloren. Seine Lippen zitterten. Als er sprach, war seine Stimme so leise, dass Nicholas nicht wusste, ob er richtig verstanden hatte.
» Die Nachricht lautet: Er hat den Vogel berührt. Aber eigentlich warst du gemeint.«
Gavin setzte sich den abgesägten Lauf unters Kinn und drückte ab. Der Knall fuhr Nicholas ins Mark wie ein Blitzschlag. Er zuckte zusammen.
Die am Himmel kreisenden Krähen suchten schlagartig das Weite. Gavin stand immer noch. Sein Unterkiefer war größtenteils verschwunden. Er schüttelte dümmlich den Kopf und die Hautlappen und weißen Knochen flogen hin und her wie ein Hühnerkamm. Er zuckte mit den Achseln, und seine Wangen zogen die zerstörte Kinnpartie nach oben – ein makabres, verlegenes Lächeln über sein Missgeschick. Er lud rasch noch einmal und schob den Lauf tiefer unter sein Kinn.
» Gavin …«
PENG. Diesmal schien sich sein Schädeldach leicht anzuheben. Er sackte zu Boden wie ein Morgenmantel, der den Haken verfehlt hat. Das Gewehr fiel scheppernd auf die Eingangsstufen.
In der angrenzenden Straße begann ein Hund zu bellen. Der Regen im Süden hing wie ein Schiefervorhang unter dem grauen Himmel.
Nicholas betrachtete Gavins Leichnam einen Moment lang, dann ließ er sich ungelenk auf der Eingangstreppe nieder. Eine Packung John Player lugte aus der Jackentasche des Toten. Nicholas beugte sich vor und zog eine heraus. Dann fummelte er in der Tasche und fand ein Feuerzeug.
» Nicholas?!«
Zwei Paar nackter Füße kamen über den Flur auf ihn zugerannt. Nicholas zündete sich die Zigarette an. » Alles in Ordnung. Ich habe schon aufgemacht.«
» O mein Gott«, flüsterte Katharine.
» Wer ist das?«, fragte Suzette. Ihr Gesicht war weiß wie Papier.
» Gavin Boye.« Nicholas sog den Rauch tief ein. Seine Hände zitterten. » Er war Raucher.«
» O mein Gott.«
Nicholas unterdrückte einen Hustenreiz. Er spürte seine Schwester und seine Mutter hinter sich auf die Szenerie starren. » Vielleicht sollten wir
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