Der Sog - Thriller
sich selbst zu töten. Dieselbe Person, die einen Talisman aus einem toten Vogel gemacht hat.
Nicholas stand vom Bett auf. Er musste darüber reden, es anstechen, ehe es in seinem Kopf anschwoll wie eine Blase schlechtes Blut und ihn vergiftete. Er musste es Suzette erzählen. Mit zitternden Armen kämpfte er sich in sein Kapuzenshirt.
Im Flur war es dunkel. Suzettes Tür stand offen. Ihr Bett war nicht gemacht.
Nicholas runzelte die Stirn und patschte zur Tür seiner Mutter. Keine Schnarcher kamen diesmal dahinter hervor.
» Mum?«
Keine Antwort. Er legte die Hand auf den Türknauf, ließ sie aber dort liegen. Er fühlte ihr Wachsein auf der andern Seite der Tür. Eine dumpfe Wut stieg in ihm auf, die er aber wieder hinunterschluckte.
Kannst du es ihr verübeln, du Spinner? Du bist ein Albatros.
Nicholas merkte, dass er immer noch zitterte. Seine Beine waren kraftlos und vibrierten wie Cellosaiten. Er schlurfte in die Küche und machte Tee, dann stapfte er ins Wohnzimmer.
Suzette schlief zusammengerollt auf dem Sofa, ihr Gesicht sah leichengrau aus im Schein des Fernsehgeräts. Der Ton war so leise gestellt, dass er ihn nicht hatte hören können.
Er setzte sich neben sie und sah fern, während er seinen Tee schlürfte. Nach zwei Werbespots (einer war für ein Unternehmen, das durchblicken ließ, es würde einem auch dann noch Geld leihen, wenn man gerade aus dem Gefängnis ausgebrochen war und Schulkinder als Geiseln hielt, der andere zeigte hübsche Frauen mit loser Moral, die ohne seinen Anruf unmöglich die Nacht durchstanden) kamen aktuelle Nachrichten. Elliot Guyatt, der in Untersuchungshaft zurückgeschickt worden war und in der kommenden Woche seinem Prozess wegen Mordes an dem siebenjährigen Dylan Thomas entgegensah, war in seiner Zelle in der U-Haft tot aufgefunden worden; offenbar hatte er ein Aneurysma im Gehirn erlitten. Ein gerichtsmedizinischer Bericht stand noch aus. In der St. John’s Anglican Cathedral war heute der Gedenkgottesdienst für Dylan Thomas gehalten worden, bei dem seine Schulkameraden eine Ehrenwache gebildet hatten …
Nicholas ließ die Fernbedienung dreimal fallen, bevor er das Gerät endlich ausschalten konnte.
Es dauerte länger als eine Stunde, bis er wieder einschlief.
Aber als er schlief, träumte er.
Er war Tristram. Schweiß lief ihm über die Schläfen und sammelte sich in den Achselhöhlen und dem Schritt. Er bewegte sich auf Knien und seiner gesunden Hand durch einen dunklen Tunnel voller Spinnweben. Bei jedem Zentimeter, den er vorwärtskam, legten sie sich auf sein Gesicht, verklebten seine Nasenlöcher, bedeckten seine Lippen. Er wollte schreien, konnte es aber nicht, weil dann Spinnen in seinen Mund gelangt wären. Der Tunnel schien nie zu enden, und die Netze wurden dichter und die Spinnen auf seinen Armen und Beinen, die Spinnen, die in sein Hemd krochen und sich in seine Ohren bohrten, wurden so zahlreich, dass sie ihn mit ihrem Gewicht nach unten drückten. Bald waren die Spinnweben über seinen Augen dicht wie ein Leichentuch; sie ließen kein Licht mehr durch und machten ihn bewegungsunfähig. Er schrie jetzt, aber die feinen Fäden hatten sich so eng um sein Kinn geschlungen, dass er den Mund nicht mehr öffnen konnte. Er wehrte sich, aber die klebrige Seide hielt ihn fest. Und die Spinnen – Tausende Spinnen – hörten auf, herumzukrabbeln und begannen zu fressen.
8
Er erwachte zum fernen Klappern von Löffeln in Keramikschüsseln. Er stand auf und wischte sich die Augenwinkel aus. Es war kurz nach sieben.
Als er den Flur entlangschlurfte, hörte er ein elefantenartiges Grollen hinter Suzettes Schlafzimmertür. Bei dem satten Blubbern, das aus der Küche drang, hätte er sich nicht gewundert, wenn er um die Ecke gebogen wäre und gesehen hätte, wie seine Mutter in einen Umhang mit Kapuze gekleidet, getrocknete tote Dinge in einen rußgeschwärzten Kessel streute. Die Vorstellung erheiterte ihn nicht; sie verursachte eine leichte Übelkeit. Er schüttelte den Gedanken ab und betrat die Küche.
Katharine hatte ihr rosa Nachtgewand an und rührte in einem Topf Porridge. » Guten Morgen«, sagte sie.
Er hatte beabsichtigt, ihr zu erzählen, was er in der Nacht in den Nachrichten gesehen hatte – dass Elliot Guyatt in seiner Zelle gestorben war. Aber Katharine rührte mit solcher Heftigkeit in dem blubbernden Haferbrei und hatte die Schultern so hochgezogen, dass er nichts sagte. Sie war angespannt. Oder wütend. Oder … Sie hat
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