Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Sohn der Schatten

Der Sohn der Schatten

Titel: Der Sohn der Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juliet Marillier
Vom Netzwerk:
die Hände fest um den Hals des anderen und drückte zu. Der Mann in Grün hatte ein kantiges Gesicht, und eine Locke braunen Haars fiel ihm in die Augen. Es war Eamonn. Es sah so aus, als würde er siegen. Aber warum keuchte er dann nach Luft, warum war er so geisterhaft bleich? Schatten zuckten über die beiden hinweg, die sich im gegenseitigen Todesgriff befanden. Dann sah ich den Dolch, der tief in der Brust des grünen Hemdes steckte, einen Dolch, der sich fest in einer Hand befand, deren weiße Knöchel und angestrengte Sehnen ein zartes Muster aus Spiralen und Wirbeln zeigten. Ich brauchte die Züge dieses Mannes nicht zu sehen, um ihn zu erkennen, aber ich schaute dennoch hin, und die Vision veränderte sich, und nun verschwamm das Gesicht eines Mannes zu dem des anderen – beide waren erfüllt von Hass, und ich konnte sie nicht mehr unterscheiden. Ich stieß eine Art Schrei aus, und der Schatten ließ mich wieder in den feuerbeleuchteten Raum zurückfallen. Ich musste wohl in einer Art Ohnmacht nach vorn gesackt sein, denn ich lag halb auf dem Boden, und Sean hatte den Arm um meine Schultern gelegt. Liam sah meine Mutter an und sie ihn, als wäre ihnen das, was sie dort erblickten, nur zu vertraut. Mein Vater holte mir einen Becher Wasser, und ich trank. Bald ging es mir wieder gut, zumindest äußerlich. Aber ich wollte ihnen nicht sagen, was ich gesehen hatte.
    »Sean spricht sich gut für seine Sache aus«, sagte mein Vater irgendwann später. »Wir sollten zumindest darüber nachdenken. Vielleicht hat er Recht. Vielleicht ist genug Blut vergossen worden.«
    »Du glaubst, der Bemalte Mann würde keines mehr vergießen?«, fragte Liam und zog ungläubig die Brauen hoch. »Seine Hände stinken danach. Du hast gehört, was Eamonn gesagt hat.«
    »Wir alle haben getötet. Und es gibt viele Geschichten. Ich schlage mich auf keine Seite. Ich schlage nur vor, dass du Seans Idee nicht sofort als unmöglich abtust. Lege sie deinen Verbündeten vor, wenn du sie alle versammelt hast. Ich würde nicht in den Hallen von Tara über ein solches Thema sprechen. Aber hier in Sevenwaters ist es sicher. Sprich mit ihnen darüber, bevor ihr zur Versammlung des Hochkönigs aufbrecht. Dann kannst du ihre Stimmung einschätzen.«
    Liam schwieg.
    »Du solltest Conor fragen«, sagte meine Mutter. »Er wird morgen hier sein. Frag ihn, ob er es für klug hält, die Prophezeiung einfach zu vergessen.«
    »Conor!« Liams Ton war kalt. »Wir können Conors Urteil nicht mehr trauen.«
    »Das ist zu viel«, sagte Iubdan. »Wir hatten alle Anteil an dem, was mit Ciarán geschehen ist. Du kannst die Schuld nicht nur deinem Bruder geben.«
    »Das ist mir nur allzu klar, Brite«, fauchte mein Onkel. »Dass es deiner Tochter an Selbstbeherrschung fehlte, war ebenfalls ein Faktor.«
    Vater kam auf die Beine. Er war einen guten Kopf größer als Liam. Hinter ihm hob Sorcha die Hand, um ein zartes Gähnen zu verbergen.
    »Es ist spät«, murmelte sie. »Zeit, ins Bett zu gehen. Liadan, es geht dir nicht gut. Komm, ich bringe dich ins Bett. Roter, könntest du bitte eine Kerze mitbringen?« Sie stand auf und ging zu ihrem mürrischen Bruder. »Gute Nacht, Liam.« Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn auf beide Wangen. »Die Göttin möge dir süße Träume und morgen Früh einen klaren Kopf schenken. Gute Nacht, Sean.« Alle drei Männer schwiegen, und der Zorn wich aus ihrem Blick. Dana allein mochte wissen, wie sie zurechtkommen würden, wenn meine Mutter einmal nicht mehr war.
    In der Morgendämmerung des nächsten Tages standen wir unter einer großen Eiche tief im Wald, bereit für das Ritual zu Meán Fómhair. Conor war da, und mehrere andere seiner Art, aber diesmal sah man nicht die reglose, aufrechte Gestalt eines gewissen rothaarigen Schülers. In den Händen hielten wir die Ergebnisse dieser guten Ernte, ein vollendetes Beispiel von jedem. Einen goldenen Kürbis, einen schönen, vielblättrigen Kohlkopf. Eine Hand voll seidigen Korns, ein kleines Fläschchen Met. Apfelwein, Honig, frische Kräuter. Ich hatte eine Eichel in der Hand, sicher in ihrer schimmernden Schutzschale, fest in ihrem kleinen Becher. Wir standen rings um den uralten Baum und schauderten in der Morgenkälte. Liam, feierlich und bleich, und neben ihm Sean, eine jüngere Version desselben Mannes. Mein Vater, der keinem Glauben anhing, stand sehr still neben dem riesigen Eichenstamm, den Arm um Mutter gelegt. Wir waren nicht im Stande gewesen, sie zu

Weitere Kostenlose Bücher