Der Sohn der Schatten
bevor, und dennoch hatte der Tag die Kälte des Herbstes. Das Wasser rührte sich und blubberte und war wieder still. Jemand stand auf der anderen Seite des kleinen Teichs, und das war nicht mein Onkel Conor.
Du bist deiner Mutter sehr ähnlich. Wer immer es sein mochte, er hatte die Mauer um meinen Geist rasch durchdrungen, sehr viel kundiger als Conor. Ich hatte keine Hoffnung, mich einer solchen Kraft widersetzen zu können. Ähnlich, aber nicht vollkommen ähnlich. Ich saß da, unfähig, aufzublicken. Du brauchst nicht hinzusehen; du weißt, wer ich bin. Das Wasser wurde trüb, dann reflektierte es. Und sein Abbild war dort. Es hätte Conor sein können, es hätte beinahe Conor sein können. Die Kleidung war selbstverständlich anders. Statt des schneeweißen Gewandes trug dieser Mann formlose Kleidung in einer undefinierbaren Farbe zwischen Grau und Braun. Seine Füße auf den Steinen waren nackt. Conors Haar war zu den ordentlichen Zöpfen der Druiden geflochten. Die schwarzen Locken dieses Mannes hingen ihm wirr auf die Schultern. Conors Augen waren grau, ruhig und still. Der Blick dieses Mannes war unergründlich tief, und seine Augen schienen so farblos wie das Wasser, in dem ich sie widergespiegelt sah. Ich konnte mich nicht zwingen aufzublicken.
Du weißt, wer ich bin. Er bewegte sich ein wenig, und wieder blitzte dieses Weiß auf. Er trug einen weiten Umhang aus grob gewebter dunkler Wolle; ein abgetragenes Kleidungsstück, das unregelmäßig herabhing und an einer Schulter befestigt war. Er bewegte sich wieder, und ich sah die Wahrheit. Meine Augen hatten mich nicht getrogen. An der Stelle seines linken Arms hatte dieser Mann den Flügel eines großen Vogels, mächtig und weiß. Er zog den Umhang wieder darüber.
Onkel. Wenn es möglich war, dass eine Gedankenstimme zittert, dann war das jetzt der Fall.
Sorchas Tochter. Du bist ihr so ähnlich. Wie heißt du?
Liadan. Aber –
Blick jetzt auf, Liadan.
Ich hatte halb erwartet, dass niemand zu sehen wäre. Er stand so still, dass man ihn tatsächlich kaum entdecken konnte, als wäre er Teil der Steine selbst, der Moose und Farne, die dort wuchsen. Ein Mann, der weder jung noch alt war, seine Züge ein Abbild meiner Mutter, aber statt ihrer scheuen grünen Augen waren seine klar und blickten weit und hatten die Farbe von Licht, das durch stilles Wasser fiel. Das Spiegelbild hatte die Wahrheit gesprochen. Ein Mann von mittlerer Größe, schlank, mit gerader Haltung. Ein Mann, der für immer das Zeichen dessen trug, was mit ihnen geschehen war, den sechs Brüdern und ihrer kleinen Schwester.
Was bist du? Bist du ein Druide?
Es ist mein Bruder, der Druide ist.
Was bist du dann? Einer von den Filidh?
Ich bin der Schlag eines Schwanenflügels auf dem Atem des Windes. Ich bin das Geheimnis im Herzen der Stehenden Steine. Ich bin die Insel im wilden Meer. Ich bin das Feuer im Kopf des Sehers. Ich bin weder von dieser noch von jener Welt. Und dennoch bin ich ein Mensch. Ich habe Blut an meinen Händen. Ich habe geliebt und verloren. Ich spüre deinen Schmerz, und ich kenne deine Kraft.
Ich starrte ihn ehrfürchtig an. Sie glaubten, du wärst tot. Alle. Sie haben gesagt, du hättest dich ertränkt.
Einige wussten die Wahrheit. Ich kann weder in einer noch in der anderen Welt leben. Ich wandle auf der Grenze. Das ist das Schicksal, das die Zauberin mir auferlegt hat.
Ich zögerte. Meine Mutter – weißt du, dass sie sehr krank ist?
Sie hat die Zeit ihrer Reise beinahe erreicht. Mein Onkel wirkte recht ruhig.
Möchtest du sie nicht sehen, bevor diese Zeit kommt? Könntest du das nicht tun?
Ich muss nicht da sein, damit sie mich sieht. Unter der ruhigen Haltung lag tiefe Trauer. Vieles war durch Lady Oonaghs bösen Zauber verloren gegangen.
Sie weiß es also? Sie weiß, wo du bist?
Zunächst wusste sie es nicht. Nun ist es anders. Sie wissen es alle, meine Schwester, meine Brüder, jene – die geblieben sind. Es ist besser, dass andere es nicht wissen. Conors Schüler besuchen mich von Zeit zu Zeit.
Es muss … es muss sehr schwer für dich sein. Wie schwer, konnte ich mir kaum vorstellen.
Lass es mich dir zeigen. Beruhige deinen Geist, Liadan. Still und ruhig. Atme tief. Genau so. Warte ein wenig. Jetzt spüre, was ich tue. Spüre meine Gedanken, die sich um deine falten. Die dich sicher umhüllen. Spüre meinen Geist, der mit deinem eins wird. Lass, was ich bin, für eine Weile Teil von dir sein. Sieh, wie ich sehe.
Ich tat, was er mir
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