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Der Sohn der Schatten

Der Sohn der Schatten

Titel: Der Sohn der Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juliet Marillier
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bist inzwischen sehr geübt, wie? Selbst ich kann deine Barriere nicht durchbrechen. Wo hast du es gelernt, solch eiserne Mauern um deinen Geist zu errichten? Und warum? Was verbirgst du dort? Ich habe solche Beherrschung nur einmal zuvor erlebt, als Finbar sich vor langer Zeit gegen deine Mutter sperrte. Das hat ihr damals sehr wehgetan.«
    »Ich tue, was ich tun muss.«
    Er warf mir einen Blick zu. »Hm«, war alles, was er sagte. Und dann gingen wir schweigend weiter, mit raschem Schritt, während der Tag heller und der Wald um uns herum lebendig wurde. Wir gingen die Eichenstraßen entlang, während goldene Blätter in einer auffrischenden Brise um uns herumwirbelten und Eichhörnchen sich geschäftig auf die dunkle Jahreszeit vorbereiteten. Wir kamen am grauen Wasser des Sees vorbei und gingen den siebten Bach entlang, der von den Regenfällen des Herbstes zu einem Miniaturfluss angeschwollen war. Es war ein steiler Weg über große Steinblöcke, deren Oberflächen seltsam gemustert waren, als hätte ein fremder Finger sie mit einer geheimen Sprache versehen, die nur noch jene verstanden, die längst von uns gegangen waren. Oben auf der Erhöhung ruhten wir und aßen eine frugale Mahlzeit aus trockenem Brot und schrumpeligem Obst. Wir tranken aus dem Bach, und das Wasser war so kalt, dass mir der Kopf schmerzte. Es war ein seltsamer Morgen, aber auf seine Art angenehm.
    »Du fragst mich nicht, wo wir hingehen«, sagte Conor, als wir uns wieder auf den Weg machten, einen Abhang zwischen dichtem Ebereschengebüsch entlang, das mit roten Beeren beladen war.
    »Nein«, antwortete ich freundlich.
    Wieder grinste er, und einen Augenblick lang konnte ich den Jungen erkennen, der er einmal gewesen sein musste, der mit seinen fünf Brüdern und der kleinen Schwester wild im Wald herumrannte. Aber dann senkte sich die gelassene Maske des Erzdruiden sofort wieder über seine Züge.
    »Ich sagte, dass dies für dich wichtig wäre. Ich hatte gehofft, es dir ein wenig direkter erklären zu können, von Geist zu Geist. Aber ich sehe, dass du dort niemanden zulässt. Du bewachst ein großes Geheimnis. Also muss ich Worte benutzen. Es gibt eine Quelle und einen Teich hier, die so gut verborgen sind, dass wenige von ihrer Existenz wissen. Dort bringe ich dich hin. Du musst die Gaben verstehen lernen, die du besitzt, und wissen, was du damit tun kannst, oder du wirst blind gegenüber einer Macht sein, die du kaum kennst. Ich werde es dir zeigen.«
    »Du unterschätzt mich«, sagte ich kühl. »Ich bin kein Kind. Ich kenne die Gefahren von Macht, die unklug und gedankenlos eingesetzt wird.« Mutige Worte, denn ich begriff nur vage, wovon er sprach.
    »Mag sein«, sagte er. Wir bogen zwischen hängenden Weidenzweigen scharf nach links ab, und plötzlich lag ein kleiner, stiller Teich zwischen moosigen Steinen vor uns, wo frisches Wasser aus dem Boden sprudelte – für sich genommen unbedeutend, ein Ort, den man zweifellos verfehlen würde, wenn man von seiner Existenz nichts wusste. »Dieser Ort enthüllt sich nicht jedem Reisenden«, sagte Conor, vollführte ein Zeichen in der Luft vor sich und blieb zwei Schritte vom Rand des Wassers entfernt stehen.
    »Was jetzt?«, fragte ich ihn.
    »Setz dich auf die Steine. Sieh ins Wasser. Ich werde nicht weit weg sein. An diesem Ort sind Geheimnisse sicher, Liadan. Diese Steine umfassen tausend Jahre von Geheimnissen.«
    Ich setzte mich hin und konzentrierte mich auf die glatte Wasseroberfläche. An diesem Ort herrschte eine Atmosphäre der Zuflucht, ein Gefühl von Schutz. Es war, als hätte sich hier lange Zeit nichts verändert. Worte drangen lautlos zu mir. Dieser Stein ist deine Mutter. Sie hält dich in ihrer Handfläche. Mein Onkel hatte sich unter die Weiden zurückgezogen und war nicht mehr zu sehen. Ich versuchte, Gedanken und Bilder aus meinem Geist zu verbannen, aber zumindest eines ließ sich nicht löschen, und ich weigerte mich, den Schild zu senken, den ich dort errichtet hatte. Sollte jemand den Bemalten Mann finden, dann würde es nicht daran liegen, dass ich verraten hatte, was ich wusste. Ich durfte niemandem trauen, nicht einmal einem Erzdruiden.
    Das Wasser bewegte sich ein wenig. Aber hier, in dieser kleinen Schlucht, dicht umgeben von Baum und Felsen, gab es keinen Windhauch. Das Wasser bewegte sich. Ein kurzer weißer Blitz erschien in der Tiefe und war wieder verschwunden. Ich zwang mich, nicht aufzublicken. Die Luft war still und schwer, als stünde ein Gewitter

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