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Der Sohn der Schatten

Der Sohn der Schatten

Titel: Der Sohn der Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juliet Marillier
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mich zu einer Bank zu führen, und brachte mir einen Becher Wein.
    »Bitte nur Wasser.«
    »Du bist sehr bleich«, sagte Eamonn und holte einen anderen Kelch. Er setzte sich neben mich, und seine Finger berührten meine, als er mir den Becher in die Hand gab. »Du passt nicht gut genug auf dich auf, Liadan. Was ist los? Warum wolltest du mich nicht sehen?«
    Ich holte tief Luft und atmete wieder aus, ohne ein Wort zu sagen.
    »Liadan? Was ist los?« Seine Stimme war sanft, und in den braunen Augen stand Sorge.
    »Es tut mir Leid, Eamonn. Es ist besser, wenn wir nicht darüber sprechen. Ich bin sehr müde. Ich war sehr lange unterwegs.«
    Er runzelte die Stirn. »Jemand sollte sich um dich kümmern.«
    Dazu konnte ich nichts sagen. In all dem Lachen und der Geschäftigkeit waren wir eine Insel des Schweigens.
    »Ich werde das einfach nicht akzeptieren«, sagte er plötzlich. »So geht es nicht.«
    »Was?« Brighid, hilf, ich war so müde. Die Berührung seiner Hand erweckte Erinnerungen an etwas, das lieber weiterschlafen sollte.
    »M-mich ausschließen.« Eamonn verzog unwillig das Gesicht, zornig auf sich selbst. Er hatte das Stottern seiner Kinderjahre lange beherrschen können. »Du schuldest mir etwas Besseres, Liadan. Ich muss mit dir allein sprechen, bevor ich gehe.«
    Ich holte tief Luft. Plötzlich hatte ich Tränen in den Augen. Wie konnte ich es ihm sagen? Wie konnte ich das tun? Ich sprach, ohne nachzudenken.
    »Ich bin wirklich müde. Ich bin so müde.«
    Seine Haltung änderte sich. Er sah sich rasch um und überzeugte sich davon, dass niemand hinschaute, dann bewegte er die Hand unauffällig und streifte kurz meine Wange mit seinen Fingern, fischte die einzelne Träne weg, die sich dort fand.
    »Oh Liadan.«
    Die Intensität seines Blicks machte mir Angst. Es kam mir so vor, als gäbe es nur eine dünne Grenze zwischen Liebe und Hass, zwischen Leidenschaft und Wut. Das Geräusch von Hufschlag vor der Tür rettete mich vor einer Antwort, aber als wir aufstanden, um nach draußen zu gehen, hatte Eamonn mir die Hand leicht auf den Rücken gelegt und schirmte mich vor der Menge ab. Bald würde ich es ihm sagen müssen. Bald würde ich die Worte finden müssen.
    Lauter Hufschlag. Fackeln qualmten und flackerten im Dunkeln. Am Himmel waren nur Wolken, aber keine Sterne zu sehen. Sie ritten in Zweierreihen in den Hof, und der stolzen Haltung und den geraden Rücken der Männer des Uí Néill war keine Müdigkeit anzusehen. Einer trug seine Flagge, weiß mit einem roten Zeichen, einer Schlange, die sich wand, um ihren eigenen Schwanz zu verschlingen. Dann Fionn selbst, breitschultrig und mit dünnen, angespannten Lippen, und neben ihm meine Schwester. Ich hatte mich so danach gesehnt, Niamh zu sehen, die mich während meiner Kindheit so geneckt und gequält hatte, Niamh, die einen Augenblick lang wütend war und mir im nächsten ihre tiefsten Geheimnisse anvertraute. Die lachende, goldene Niamh, die sich in einem Sonnenstrahl in ihrem weißen Kleid drehte … Sehnst du dich nicht auch nach etwas, das dein Leben flackern und brennen lässt, so dass die ganze Welt es sehen kann? Sehnst du dich nicht danach, Liadan? Sie hatte mir schrecklich gefehlt, und ich konnte nicht erwarten, mit ihr zu sprechen, ob sie nun eine lange Reise hinter sich hatte oder nicht. Also lief ich die Treppe hinunter, stellte mich neben Liam, der seine Gäste begrüßen wollte, und das Pferd meiner Schwester blieb direkt vor mir stehen. Ich blickte zu ihr auf, und ich wusste es sofort: Was immer sonst ich sagen würde, mein Geheimnis konnte ich ihr niemals verraten. Denn ich stand dort in meinem grünen Gewand und glühte von dem neuen Leben, das man mir gewährt hatte, und sie warf einen Blick auf mich und wandte sich dann ab, ihre Miene erstarrt, ihre großen blauen Augen leer, ohne eine Spur ihrer alten Leidenschaft, der Hoffnungen und wilden Träume. Fionn bot ihr seine Hand, und sie stieg elegant aus dem Sattel. Ihr pelzgefütterter Umhang und die weichen Ziegenfellstiefel waren makellos. Ihr schimmerndes Haar war mit schneeweißem Leinen und mit einer Samtkapuze bedeckt. Sie war wie eine wunderschöne Muschelschale, aus der durch einen plötzlichen Sturm das lebendige Geschöpf herausgerissen worden war, sie war der liebreizende Überrest eines für immer dahingegangenen Geschöpfs. Ich trat einen Schritt vor und umarmte sie ganz fest, als wollte ich leugnen, was ich gesehen hatte, und sie zuckte vor meiner Berührung

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