Der Sohn der Schatten
Sie versuchten, nicht an die Gezeiten zu denken. Niemand fragte sich, wer den Befehl übernehmen würde, wenn Fergus nicht zurückkäme.
Sie warteten lange Zeit – zumindest kam es ihnen lange vor, bei dem rauschenden Wasser und den sich verändernden Schatten und ihrer Fantasie, die sie ständig narrte. Schließlich tauchte Fergus wieder auf, und er hatte eine seltsame Miene, als hätte er etwas entdeckt, was über seine wildesten Träume hinausging, etwas, das er nie in Worte fassen könnte. Er stieg ins Boot und löste das Seil, und die Männer duckten sich, und die Strömung trieb sie durch die niedrige Öffnung hinaus und vorwärts, weg von dem schäumenden Wasser und den Felsen, spuckte ihr Schiff ins offene Meer. Dort stellten sie den Mast wieder auf und hissten das Segel, griffen nach den Rudern und eilten sich, nach Hause zu kommen. Und sie stellten Fergus keine einzige Frage, bis sie wieder sicher an der Küste von Erin waren. Er sagte ihnen nicht, was er gesehen hatte. Vielleicht erzählte er es Eithne, aber nicht dem Rest seines Haushalts. Es war ein Geheimnis, sagte er ihnen. Aber was seine Frau ihm erzählt hatte, entsprach der Wahrheit: Diese Inseln waren der letzte Ort, und die höchste, die er Nadel nannte, war von allen am kostbarsten. Hier gab es die Höhlen der Wahrheit, bewacht von heiligen Ebereschenbäumen, die wuchsen, wo kein gewöhnlicher Baum überleben konnte. Die Inseln mussten vor der Außenwelt geschützt werden. Wenn man ihren Frieden störte, wenn sie erobert wurden, würde sich das Gleichgewicht verändern, und ganz gleich, wie sorgsam die Bewohner mit dem Wald umgingen, ganz gleich, wie sicher das Land von Sevenwaters war, dann würden sich die Dinge zum Schlechteren verändern.
Als Fergus dies eines Tages seinen Leuten sagte, glaubten sie ihm, denn er hatte ein Schimmern in den Augen und eine Ehrfurcht im Blick, die ihnen sagte, dass er tatsächlich etwas überaus Wunderbares gesehen hatte. Von dieser Zeit an stand immer eine Wache auf den Inseln, und ein Lager wurde auf der Größeren Insel aufgeschlagen, so dass weder Nordmann noch Brite noch irgendein neugieriger Fischer es wagen würde, näher zu kommen. Fergus musste rasch lernen. Die Leute von Sevenwaters waren keine Seefahrer, und sie verloren im Lauf der Jahre mehr als ein paar gute Männer, denn die Inseln liegen weit draußen und der Küste von Britannien ebenso nahe wie der von Erin. Aber ihr Wille war stark. Es kam eine Zeit, als die Druiden aus dem Wald sich über die See zur Nadel wagten und die Samhain-Rituale auf der Felsspitze unter den heiligen Ebereschen vollzogen.«
»Oh ja«, hauchte Conor strahlend, als sähe er es direkt vor sich.
»Über Generationen hielt die Familie in Sevenwaters ihr Versprechen und kümmerte sich um den Wald und seine Bewohner und wachte über die Inseln, und der Wald schenkte ihnen im Gegenzug von seinem Überfluss und sorgte dafür, dass die Feinde fernblieben.
In jeder Generation gab es einen Druiden und einen oder zwei, die den Haushalt führten und dafür sorgten, dass die Menschen zu essen hatten und das Vieh gesund war und dass die Menschen sich verteidigen konnten. Und in jeder Generation gab es einen Heiler.
Außerhalb des Waldes breitete sich der christliche Glaube über das Land aus, manchmal mit Hilfe von Gewalt, aber häufiger still und unauffällig. Außerhalb des Waldes kamen die Nordmänner, und auch andere führten Überfälle durch, und nichts war mehr sicher, kein stilles Dorf, keine königliche Festung, kein Kloster und Haus des Gebets. Die Menschen glaubten nicht mehr an die Túatha Dé und an die Manifestationen der Anderwelt, denn in ihrer Angst sahen sie nur noch Barbaren, deren Äxte vom Blut ihrer Lieben trieften. Aber Sevenwaters war sicher, ebenso wie das Land, das an den Wald angrenzte. Familien, die durch Heirat und lange Allianzen verbündet waren, hielten gegen jeden Feind stand. Aber unvermeidlich kam dann eine Zeit, in der die Familie zu selbstzufrieden wurde. Es gab eine Generation, die kein Kind zu den Weisen schickte. Töchter heirateten weiter weg und starben früh. Ein Anführer war unaufmerksam, und seine Bauern nahmen schlechte Gewohnheiten an. Und sobald die Dinge in Bewegung geraten waren, ging es rasch bergab.
In diesem Augenblick rochen die Feinde selbstverständlich Blut. Besonders die Briten, die Northwoods aus Cumbria, hatten den Wunsch, ihre Herrschaft über das Meer hinaus auszudehnen, und eine finstere Zeit für Sevenwaters
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