Der Sohn der Schatten
öffnete und schloss, drehte mich aber nicht um.
Gut. Du brauchst mich also gar nicht.
Ich wusste, dass Finbar hinter mir im Schatten stand, aber ich blieb reglos.
Das Wasser begann in Sonnenrichtung zu wirbeln, als jagte es sich selbst im Kreis herum. Ich spürte, wie mir schwindlig wurde. Dann hörte die Bewegung so abrupt auf, wie sie begonnen hatte. Ich sah in die Schale.
Das Bild war klein, aber klar. Kinderhände, die Muster im Sand zeichneten. Dann wurde das Bild größer. Das Kind befand sich in einer Höhle, Licht fiel von oben herein und verlieh der Szene viele Schattierungen von Grau und Blau. Eine Höhle am Meer, wo Wasser sanft ein- und ausströmte, und man von ferne die Schreie der Möwen hörte. Ein Ort, an dem viele Elemente zusammenkamen, ein geheimer Ort. In der Höhle gab es einen winzigen, weichen Sandstrand, an dem das Kind leise spielte, während eine Frau zusah. Ich weiß nicht, ob dieses Kind ein Junge oder ein Mädchen war. Es war vielleicht zwei Jahre alt und hatte eine Kappe dunkelroter Locken und milchweiße Haut. Die Frau sagte etwas, und als das Kind aufblickte, sah ich seine Augen, die tief und dunkel waren wie reife Maulbeeren. Die Frau war so dünn, dass sich die Knochen unter ihrer Haut deutlich abzeichneten. Sie war schlank und zerbrechlich wie eine Birke im Winter. Ihr Haar war von einem verblichenen Rotgold und hing ihr offen über den Rücken. Sie beobachtete das Kind und achtete darauf, dass es nicht zu dicht ans Wasser ging. Und nach einer Weile setzte sie sich dicht neben das Kleine in den Sand und begann ihre eigenen Muster jenen hinzuzufügen, die bereits mit solcher Sorgfalt dort angebracht waren. Ihre blauen Augen lagen im Schatten, aber wenn sie ihren kleinen Schutzbefohlenen ansah, lag auf ihren abgezehrten Zügen solche Freude, solcher Stolz, dass ich spürte, wie mir Tränen über die Wangen liefen. Diese Frau war meine Schwester Niamh.
Dann war plötzlich etwas anderes da. Eine Kraft; eine Macht, wie ich sie nie zuvor erlebt hatte. Frau und Kind spielten weiter und bemerkten nichts. Aber etwas drängte gegen mich, als wäre eine sehr starke Hand gegen meine Gedanken gedrückt, als versuchte man, meine Vision zu blockieren. Nein, sagte eine Stimme. Bleib draußen. Und damit war das Bild verschwunden, und ich stand einfach da und starrte dümmlich ins Badewasser meines Kindes.
Schaudernd beschloss ich, meinen Sohn doch nicht in die Wiege zu legen, wich zurück von der Kupferschüssel, setzte mich auf meinen Stuhl und wiegte Johnny warm an meiner Schulter, während er weiterschlief. Er gab kleine, schnaufende Geräusche von sich, als wollte er mich trösten. Finbar beobachtete mich aus ein paar Schritten Entfernung.
»Hast du das gesehen?«, fragte ich ihn.
»Nicht so direkt wie du. Aber du hast deinen Geist vor mir geöffnet, also wurde ich Zeuge deiner Vision.« Er benutzte nicht die innere Stimme, sondern sprach laut, auf eine irgendwie zögernde Weise, als müsse er weiterhin diese wenig genutzte Fähigkeit üben, nachdem er nun wieder unter Menschen war.
»Was war das? Es fühlte sich an wie eine eiserne Faust, die mich wegschiebt. Wie die Barriere, die ein … ein Zauberer errichtet, um neugierige Blicke von seinen Geheimnissen fern zu halten. Die alten Geschichten erzählen von solch unsichtbaren Mauern.«
»In der Tat. Dies ist eine Vision, die wir vielleicht lieber vor Conor verbergen sollten. Ich hätte geglaubt, es ginge um einen anderen, den du am meisten sehen möchtest, und nicht um deine Schwester.«
»Die beiden sind miteinander verbunden. Was ich von der einen sehe, erzählt mir im Augenblick auch von dem anderen. Aber diese Vision zeigte nicht die Gegenwart. Das ist nicht möglich. Es war ihr Kind, ich habe es in ihren Augen gelesen. Es musste eine Vision der Zukunft sein.«
»Oder ein Bild dessen, was du dir wünschst.«
»Das ist grausam«, sagte ich und verbiss mir die Tränen.
»Der Blick ist grausam – das weißt du bereits. Wirst du es wieder versuchen?«
»Ich … ich weiß es nicht. Ich weiß nicht, ob ich noch mehr sehen möchte.«
»Du bist keine gute Lügnerin.«
Also legte ich Johnny in sein Bett, deckte ihn mit der bunten Steppdecke zu, die ich genäht hatte, und kehrte zur Kupferschale zurück. Finbar versuchte nicht, mich anzuleiten, aber seine stille Gegenwart gab mir Kraft.
Einige Zeit glaubte ich, dass nichts mehr geschehen würde. Das Wasser schien sich zu trüben und dunkel zu werden, aber es gab keine Bewegung.
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