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Der Sohn der Schatten

Der Sohn der Schatten

Titel: Der Sohn der Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juliet Marillier
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beide vertrauen dir.«
    Iubdan wartete einen Augenblick, bevor er sprach, und ich fragte mich, ob sie ihn zum ersten Mal in ihrem Leben falsch verstanden hatte. Aber dann sagte er: »Deine Mutter hat Recht, Liebes. Warum sonst hätte ich dich immer deine eigene Wahl treffen lassen?«
    »Und jetzt geh, Liadan«, flüsterte Mutter. »Versuche, mit deinem Bruder zu sprechen. Er sollte sich beeilen.«
    Ich ging hinunter und über die Felder zum Waldrand, denn das Haus war voller Kummer, und ich brauchte Bäume und frische Luft. Ich brauchte einen klaren Kopf, nicht nur, um meinen Bruder zu erreichen, sondern um eine schwierige Entscheidung zu treffen. Sorcha starb. Sie verdiente die Wahrheit. Aber wenn ich es ihr sagte, musste ich es auch meinem Vater erzählen. Sie hatten erklärt, dass sie mir vertrauten, aber sicher würden sie sich entsetzt vor dem abwenden, was ich diesmal getan hatte. Wenn Vater mit meiner Geschichte zu Liam ging, dann würde alles Gute, was meine Lügen getan hatten, auf der Stelle vergebens sein. Wenn sie immer noch lebte, würde man meine Schwester verfolgen und sie nach Hause bringen. Vielleicht würden sie versuchen, sie ihrem hoch geachteten Ehemann zurückzugeben. Dann würde die ganze Wahrheit herauskommen und die Allianz zerbrechen. Was den Bemalten Mann anging, so würde Eamonn ihn jagen und töten wie ein wildes Tier in der Nacht, und ohne ihn würden seine Männer zu dem Flüchtlingsleben zurückkehren, das sie gekannt hatten, bevor er ihnen Namen und einen Sinn gab und die Gabe der Selbstachtung. Mein Sohn würde nie seinen Vater kennen lernen, nur in Geschichten, in denen man von ihm als einer Art Ungeheuer sprach. Dann würde unsere Familie tatsächlich zerstört sein. Die Aussicht bewirkte, dass mir kalt wurde. Und dann war da das Feenvolk. Du darfst die Allianz nicht aufs Spiel setzen, hatte die Herrin mir gesagt. Man konnte eine solche Warnung nur schwer abtun. Aber meine Mutter verdiente die Wahrheit, und auf ihre eigene Weise hatte sie mich darum gebeten. Die Frage war nicht so sehr, ob sie mir vertrauten, als ob ich ihnen vertraute. Bran hatte Vertrauen einmal als eine bedeutungslose Idee abgetan. Aber wenn man kein Vertrauen hatte, war man tatsächlich allein, denn weder Freundschaft noch Liebe, weder Familie noch Bündnis konnte ohne Vertrauen existieren. Ohne Vertrauen waren wir vereinzelt und verstreut der Gnade der vier Winde ausgeliefert und hatten nichts, woran wir uns festhalten konnten.
    Am Waldrand setzte ich mich auf die Steinmauer, die die äußerste Weide umgrenzte, und beruhigte meinen Geist. Das war schwierig, denn meine Gedanken bedrängten mich. Ich brauche ein Zeichen, einen Hinweis. Warum ist Finbar nicht da? Ihn könnte ich ohne Angst fragen.
    Ich atmete langsamer und ließ die kleinen Geräusche von Wald und Bauernhof meinen Geist füllen. Das Rascheln der Frühlingsblätter an Buchen und Birken, das Vogelgezwitscher, das Knarren des Mühlrads und das leise Plätschern des Baches. Die klagenden Stimmen der Schafe. Ein Junge, der mit seiner Gänseherde sprach – »Macht schon ihr Sturköpfe oder ihr werdet was erleben« –, die schnatternde Antwort des Ganters. Seewasser, das an den Strand plätscherte, das Seufzen des Windes in den großen Eichen. Flüsternde Stimmen über meinem Kopf, die zu sagen schienen: Sorcha, Sorcha. Oh kleine Schwester.
    Als mein Geist einigermaßen ruhig war, sandte ich Gedanken zu meinem Bruder aus.
    Sean?
    Ich höre dich, Liadan. Ich bin auf dem Heimweg. Was ist mit Mutter?
    Bist du weit weg?
    Nicht so weit. Werde ich zu spät kommen?
    Du musst vor morgen Abend hier sein. Selbst die Stimme des Geistes kann weinen. Kannst du das schaffen?
    Wir werden da sein. Im Geist legte er die Arme um mich und drückte mich an sich, und ich sandte dasselbe Bild zurück. Das war alles.
    Liadan!
    Das war nicht die Stimme meines Bruders.
    Onkel? Mein Herz klopfte heftig. Wo war er?
    Ich bin hier, Kind. Dreh dich um.
    Langsam stand ich von der Mauer auf und drehte mich um, um den Waldweg entlang in den Wald zu spähen. Er war nicht leicht zu erkennen; weniger ein Mensch als ein weiterer Teil des Musters von Licht und Schatten, des Grau und Grün und Braun von Baumstämmen, Blättern, Moosen und Steinen. Aber er stand dort, barfuß auf dem weichen Boden, immer noch in seine zerlumpten Gewänder und den dunklen Umhang gekleidet. Schwarze Locken hingen um sein kreidebleiches Gesicht. Seine Augen waren klar, farblos, voller Licht.
    Ich bin froh,

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