Der Sohn der Schatten
deinem Blick gesehen. Nicht nur … nicht nur darüber, sondern wegen etwas anderem.«
Ich hielt meinen Becher zwischen den Handflächen und wärmte sie damit. »Manchmal habe ich so ein seltsames Gefühl. Als würde plötzlich alles kalt und … und dann höre ich eine Stimme …«
»Erzähl weiter.«
»Ich sehe … ich spüre, dass etwas Schreckliches geschehen wird. Ich sehe jemanden an und spüre eine … eine Art Finsternis über ihnen. Conor weiß es. Er hat mir gesagt, ich solle mich dafür nicht schuldig fühlen. Ich fand es nicht sonderlich hilfreich.«
Mutter nickte. »Mein Bruder war etwa in deinem Alter, als er es zum ersten Mal spürte. Ich spreche von Finbar. Conor erinnert sich daran. Es ist eine quälende Fähigkeit, eine, die sich nur wenige wünschen.«
»Was ist es?«, fragte ich schaudernd. »Ist es der Blick? Warum habe ich dann keine Krämpfe oder schreie und werde schlaff wie Biddy O'Néill unten an der Kreuzung? Sie hat den Blick, sie hat das Hochwasser vor zwei Wintern vorhergesagt, und den Tod von diesem Mann, dessen Wagen an Fergals Felsen umstürzte. Aber das hier ist … anders.«
»Anders und dennoch dasselbe. Deine eigene Kraft und deine eigenen Talente bestimmen, auf welche Weise es zu dir kommt. Und was du siehst, kann dich auch in die Irre führen. Finbar hat häufig die Wahrheit gesehen, und er fühlte sich schuldig, weil er nicht verhindern konnte, dass bestimmte Dinge geschahen. Aber was seine Visionen bedeuteten, war nicht leicht zu verstehen. Es ist eine grausame Gabe, Liadan. Und mit ihr kommt noch eine andere, die zu entwickeln du noch keinen Grund hattest.«
»Welche?« Ich war nicht sicher, ob ich es wirklich wissen wollte. Genügte nicht ein solches Talent – wenn man überhaupt von einem Talent sprechen konnte?
»Ich kann es nicht erklären – nicht ganz. Er hat es einmal bei mir angewandt. Er und ich … er und ich hatten dieselbe Verbundenheit, wie du sie mit Sean kennst, eine Nähe, die zuließ, dass wir von Geist zu Geist sprachen, die einen Menschen auf das tiefste Innere des anderen einstimmt. Finbar konnte das besser als ich; in jenen letzten Tagen hatte er gelernt, mich fern zu halten. Es gab Zeiten, da glaubte ich, dass er befürchtete, in seiner Wachsamkeit nachzulassen; er hatte eine tiefe Wunde im Geist hinnehmen müssen, und er wollte sie nicht teilen, nicht einmal mit mir. Aber er hatte auch andere Fähigkeiten; die Fähigkeit, die Kraft seines Geistes zum Heilen zu nutzen. Als ich … als ich verletzt war und glaubte, dass die Welt nie wieder richtig sein könnte … berührte er mich mit seinem Geist, schob die schlimmen Dinge weg, hielt meine Gedanken mit seinen eigenen, bis die Nacht vorüber war. Später benutzte er dieselbe Fähigkeit bei meinem Vater, dessen Geist zutiefst durch das Werk einer Zauberin, der Lady Oonagh, geschädigt war. Sie hatte Vater drei lange Jahre nach ihrem Willen tanzen lassen, während meine Brüder verzaubert waren. Und Lord Colum war kein schwacher Mensch; er rang mit seiner eigenen Schuld und seiner Schande, und dennoch konnte er sich ihr nicht verweigern. Als wir schließlich nach Hause zurückkehrten, kannte er uns kaum noch. Ihn wieder zu sich selbst zurückzubringen, kostete viele geduldige Tage und Nächte. Diese Heilkraft einzusetzen, fordert einen hohen Preis. Danach war Finbar … ausgelaugt. Er war kaum mehr er selbst. Er war wie ein Mann, der an Körper und Geist die schlimmsten Prüfungen durchgestanden hat. Nur die Allerstärksten können so etwas ertragen.«
Ich sah sie fragend an.
»Du bist stark, Liadan. Ich weiß nicht, ob und wann du gerufen wirst, diese Gabe zu nutzen. Vielleicht niemals. Aber du solltest es zumindest wissen. Er könnte dir mehr darüber sagen.«
»Er? Sprichst du von … Finbar?« Nun waren wir wirklich auf schlüpfrigem Boden.
Mutter drehte sich um, um aus dem Fenster zu sehen. »Es ist wieder alles so schön geworden«, sagte sie. »Die kleine Eiche, die der Rote für mich gepflanzt hat, wird eines Tages so groß und edel sein! Der Flieder, die Heilkräuter! Die Zauberin konnte uns nicht zerstören. Gemeinsam waren wir zu stark für sie.« Wieder schaute sie mich an. »Der Zauber ist stark in dir, Liadan. Und es spricht noch eins zu deinen Gunsten.«
»Was ist das?«, fragte ich. Ihre Worte waren gleichzeitig faszinierend und erschreckend.
»Er hat es mir einmal gezeigt. Finbar. Ich hätte ihn beinahe gefragt, was die Zukunft für mich bringt. Er zeigte mir
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