Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Sohn der Schatten

Der Sohn der Schatten

Titel: Der Sohn der Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juliet Marillier
Vom Netzwerk:
man mir. Sie haben es verschwiegen – es gibt strategische Gründe dafür. Der Angreifer wurde nicht erkannt. Er ist im Dunkeln geflohen, und man fand Uí Néills Leiche erst bei Tagesanbruch. Es muss ein Mann mit kräftigen Händen gewesen sein, der wusste, wie man sich lautlos im Wald bewegt.«
    Meine Gedanken überschlugen sich und kamen zu Ergebnissen, die mich erschreckten. »Ich verstehe«, flüsterte ich.
    »Ist es möglich, dass es unter deinen Verwandten einen gibt, der die Wahrheit kennt? Einen, der keine Angst hatte, diesen Mann für das zu bestrafen, was er deiner Schwester angetan hat?«
    »Es ist möglich, dass Sean die Wahrheit erraten hat«, sagte ich bedächtig. »Aber er ist seit dem Tod meiner Mutter hier in Sevenwaters geblieben.«
    »Du hast es niemandem gesagt?«
    »Du scheinst überrascht zu sein. Aber das war dein eigener Vorschlag. Bist du so verblüfft darüber, dass eine Frau solche Willenskraft haben könnte?«
    »Eigentlich nicht. Ich begreife langsam, dass ich dich nicht einfach als eine Frau betrachten kann. Du bist in jeder Hinsicht du selbst.«
    »Dennoch, ich habe ihnen irgendwann die Wahrheit gesagt, meinem Vater und Sorcha. Ich konnte sie nicht in dem Glauben sterben lassen, dass Niamh tot war. Ich sagte ihnen, was du für mich getan hast.«
    Wir saßen schweigend da, und ich dachte über die verblüffende Möglichkeit nach, dass mein Vater, dieser Schlichter jeder Streitigkeit, der sich um alles gekümmert hatte, das lebte und wuchs, seine großen Hände um Fionn Uí Néills Hals gelegt und das Leben aus ihm gedrückt haben sollte.
    »Ich würde mir deshalb keine Sorgen machen«, meinte Bran. »Wie so viele andere geheime Morde wird auch dieser vermutlich der Bande des Bemalten Manns in die Schuhe geschoben. Bei so vielen bösen Taten, was ist da eine mehr? Dein Vater hat zumindest dieses eine Mal etwas getan, um für seine vergangene Schwäche aufzukommen.«
    Ich sah ihn wütend an. »Muss ein Mann denn töten, um deine Hochachtung zu erlangen?«
    Er sah mich gleichmütig an. »Ein Mann oder eine Frau muss zumindest im Stande sein, vernünftige Entscheidungen zu fällen und sich daran zu halten. Wenn ein Mann Verantwortung hat, sollte er sie nicht einfach einer Laune entsprechend abgeben. Wenn er den Weg von Land und Familie und Gemeinschaft gewählt hat, dann muss er diese Last für den Rest seines Lebens tragen und kann sie nicht einfach abwerfen, um einer Frau zu folgen, die ihn betört hat.«
    Ich seufzte. »Ich wünschte, du hättest meine Mutter kennen gelernt. Du hättest nur ein einziges Mal mit ihr sprechen müssen, um deine Meinung vollkommen zu ändern. Was meinen Vater angeht – er hat eine schwierige Entscheidung getroffen, als er mit ihr hierher kam. Er ist nicht vor der Verantwortung zurückgeschreckt. Er hat einfach nur eine Last, wie du es ausgedrückt hast, gegen eine andere eingetauscht. Sie brauchte ihn, Bran. Sie brauchte ihn, so wie …« Meine Stimme brach, und ich hielt die Worte zurück. Ich dich brauche. Ich würde es nicht aussprechen.
    Wir saßen eine Weile schweigend da, und dann sagte er: »Ich kann nicht lange bleiben. Ich muss mit deinem Bruder sprechen, denn mein Auftrag ist erst halb erfüllt. Sind andere Frauen in der Nähe, oder bist du allein hier?«
    »Es ist unwahrscheinlich, dass man uns stören wird. Warum fragst du?«
    »Ich … ich habe mir vorgenommen, mich zurückzuhalten, wenn ich dich endlich wieder sehen würde, aber ich …«
    Er sprach nicht mehr weiter, weil wir einander plötzlich wieder in den Armen lagen, uns aneinander drückten und die Flut aufgestauten Begehrens uns durchdrang und wir uns nicht zurückhalten konnten. Und es war tatsächlich wunderbar, seinen festen Körper wieder an mir zu spüren, die drängende Berührung seiner Hände durch den feuchten Stoff meines Hemdes. Alles war verschwunden bis auf diese Gefühle. Es war, als gäbe es keinen Mann und keine Frau hier am Ufer unter den Weiden – keinen Bran, keine Liadan, nur zwei Hälften von etwas, das zerbrochen war und nun unvermeidlich wieder ein Ganzes wurde. Ich seufzte und zog ihn fester an mich. Er flüsterte etwas und bewegte sich geringfügig, und ich keuchte. Dann erklang von der anderen Seite unserer kleinen Bucht ein Jammern und ein Krächzen von dem Zweig oberhalb, und wir erstarrten beide. Das Weinen wurde lauter; wir rückten auseinander und erhoben uns, und ich ging hinüber und hob meinen Sohn hoch, während Bran reglos im Gras stand und

Weitere Kostenlose Bücher