Der Sohn der Schatten
Entscheidung bereits gefällt. Aisling gab ein leises, wortloses Geräusch von sich, und sie wurde vollkommen bleich, und die Vision änderte sich wieder. Sie war oben auf dem Wachturm, und die Männer hatten ihr den Rücken zugekehrt. Sie stand in ihrem weißen Gewand oben auf den Zinnen, und jemand schrie Nein!, und sie tat einen Schritt in die Leere und stürzte abwärts wie ein Stein, fiel ohne einen Laut auf die zerklüfteten Felsen tief drunten. Der Blick ersparte mir keine Einzelheit. Ich schrie entsetzt auf, und Johnny erwachte und begann zu weinen, und Fiacha fügte der allgemeinen Unruhe seine deutliche Stimme hinzu.
Die Reaktionen kamen rasch. Zunächst stürzte das junge Kindermädchen gähnend herein, um das Kind aufzuheben und mit sanften Worten zu beruhigen. Dann kamen Janis mit einer Laterne und Sean, der rasch die Situation abschätzte und das Entsetzen in meinen Gedanken auffing, denn zu solchen Zeiten war ich nicht im Stande, darüber zu wachen. Er schickte die anderen wieder ins Bett, und ich umarmte meinen Sohn, bis wir beide ruhiger waren, und trank den Wein, den mein Bruder mir brachte. Meine Kerze im Fenster brannte weiter, denn nun stellte ich sie dort jede Nacht auf, ob nun der Sichelmond schien oder eine ganze, schimmernde Kugel, oder ob der dunkle Himmel voller Schatten war.
»Besser?«, fragte Sean nach einer Weile.
Ich atmete schaudernd ein. »Ich … oh Sean … ich sah …«
»Lass dir Zeit«, riet mein Bruder mir ruhig und klang dabei ganz ähnlich wie unser Vater. »Möchtest du mir davon erzählen?«
»Ich … ich weiß es nicht … es war … es war schrecklich, nicht nur diese letzte Vision, sondern … Sean, ich glaube nicht, dass ich dir das sagen kann.« Das Bild war immer noch vor meinem geistigen Auge, gebrochene Knochen, blicklose Augen, helles Haar und helles Blut und … andere Dinge. Ich errichtete rasch eine Barriere, damit er meine Gedanken nicht sehen konnte.
»Ich mache mir Sorgen um dich, Liadan.« Sean hielt seinen eigenen Weinkelch in der Hand und starrte in die Kerzenflamme. Auf seinen Zügen lag neuer Ernst; Vaters Abwesenheit hatte das Gleichgewicht unseres Haushalts mehr durcheinander gebracht, als man erwartet hätte. »Diese Visionen verstören dich schon seit einiger Zeit, ich weiß. Vielleicht solltest du mit Conor reden. Er würde kommen, wenn wir nach ihm schicken.«
»Nein«, sagte ich abrupt und dachte, Johnny ist jetzt älter. Conor würde mich wieder bitten, mit ihm in den Wald zu kommen, und ich müsste einen Grund finden, es abzulehnen. »Sean, du musst mir sagen, was geschieht. Ich weiß, es ist ein Geheimnis, aber der Blick scheint mich zu warnen, und ich habe Angst um … um alle, die mir nahe stehen, und ich kann nicht sagen, wen ich warnen muss. Was ist das für ein Auftrag, auf den du den Bemalten Mann geschickt hast? Wer sonst weiß davon? Und was ist mit Eamonn?« Ich wollte Aislings Namen nicht aussprechen, denn sobald er hören würde, wie ich ihn aussprach, würde er wissen, dass es in meiner Vision um sie gegangen war, und er würde die Wahrheit aus mir herausholen, ein Ereignis, das vielleicht eintreten würde, oder vielleicht auch nicht.
Er würde sich verpflichtet fühlen, etwas zu unternehmen, und damit die Katastrophe vielleicht erst anzetteln.
Sean kniff die Lippen zusammen. »Das brauchst du nicht zu wissen.«
»Doch, Sean. Es sind Leben in Gefahr – viele Leben. Glaub mir.«
»Liadan?«, fragte mein Bruder.
»Was?« Ich wusste, was jetzt kam.
»Das ist sein Kind, nicht wahr?«
Es hatte keinen Sinn, noch auszuweichen, nachdem er nun seinen Verdacht schließlich ausgesprochen hatte. Und dennoch konnte ich ihm nicht die ganze Wahrheit sagen. Er konnte nicht den anderen Teil der Geschichte hören, die Geschichte von Niamh und ihrem Druiden und einer seltsamen Flucht nach Kerry. Ich nickte einfach. »Sind sie einander so ähnlich?«, fragte ich mit einem mühsamen Lächeln.
»Mit der Zeit werden sie es werden.« Seans Stirnrunzeln war genau wie das von Liam. »Es ist zu spät, dich darauf hinzuweisen, wie dumm du warst; zu spät, noch zu erklären, wie gedankenlos und eigensüchtig das war. Was ist mit Eamonn? Weiß er es?«
»Ich habe es ihm nicht gesagt«, erklärte ich und wünschte mir, dass mir seine Meinung über mich nicht so wichtig wäre. »Aber ja, er weiß es. Er … er hat Andeutungen gemacht über Spione, über Informationen, die er erhalten hat.«
»Er hat sich seltsam verhalten«, meinte
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