Der Sohn der Schatten
den feuchten Sand des kleinen Strandes. Johnny blickte auf und sagte etwas in seiner unverständlichen Kindersprache.
»In der Tat«, erwiderte Bran ernst. »Ich denke, es war gut, dass du heute Nachmittag zu diesem Zeitpunkt aufgewacht bist. Ansonsten hätte es vielleicht noch einen kleinen Sohn oder eine kleine Tochter gegeben, die in eine Welt der Schatten und Unsicherheit geboren wurde.« Er fuhr mit seinen blanken Fingern sanft durch die braunen Locken seines Sohnes, und dann stand er auf.
»Ich habe keine Antworten für dich«, sagte er mit ernster Miene. Nun hielt er die drei Schritte Abstand, als wäre es zu gefährlich, mir wieder näher zu kommen.
Es fiel mir jeden Augenblick schwerer, die Tränen zurückzuhalten. »Ich erwarte nichts«, sagte ich ihm. »Ich habe Wünsche und Hoffnungen für uns drei, aber keine Erwartungen.«
»Leb wohl, Liadan.« Er griff nach seinem Rucksack und ging von mir weg, über die Wiese in den Schatten der Weiden. Dort blieb er stehen und drehte sich noch einmal um, sah erst Johnny an und dann mich, und es kam mir so vor, als läge der Schatten in seinem Blick und rings um ihn her.
»Leb wohl, mein Herz«, flüsterte ich und bückte mich, um mein nasses, sandiges Kind aufzuheben, denn es war längst Zeit für uns, ins Haus zurückzukehren. Immer noch sah Bran uns nach, und seine Miene nahm mir den Atem – eine solch erstaunliche Mischung aus Liebe und Schmerz war es. Dann wandte er uns den Rücken zu und ging.
***
Danach kam der Blick ungebeten zu mir, und mit ungeheurer Intensität. Ich hielt mich für stark, aber einer solchen Prüfung hatte ich mich nie unterziehen müssen. Ich verstand das trügerische Wesen dieser Begabung: dass sie nicht immer die Wahrheit zeigte, dass die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft, das Gewesene, das Künftige und das Mögliche ununterscheidbar zu Visionen zusammengewürfelt wurde. Das war gut so, denn ohne dieses Wissen hätte ich vermutlich den Verstand verloren, wie es einigen Leuten ging, die mit derselben Begabung verflucht waren. Sie überfiel mich ohne jede Vorwarnung, und alle Bilder, die ich sah, waren finster. Und selbst, wenn keine Visionen kamen, konnte ich dem Gefühl nicht entgehen, dass man mich beobachtete, dass irgendwie alles, was ich tat, überwacht und beurteilt wurde.
Manchmal dauerte es überhaupt nicht lange. Ich war vielleicht auf dem Rückweg von der Siedlung, meinen Korb am Arm, fühlte mich ein wenig müde, und dann sah ich direkt vor mir die in Stein gemeißelten Ungeheuer auf den Säulen und Eamonns Gesicht, bleich vor verzweifeltem Zorn, und seine Hände um Brans Hals, wie sie fest zudrückten. Und diesmal fiel Brans Messer unbenutzt zu Boden, während die musterüberzogenen Finger erschlafften und sein Gesicht dunkel anlief und sich verzerrte, und ich spürte in meiner eigenen Brust das hektische Ringen um Atem, sah vor meinen eigenen Augen, wie die Schwärze sich erhob, um mich zu nehmen. Oder ich saß zu Hause am Feuer, während Johnny mit ein paar Holztieren, die mein Vater einmal für Niamh geschnitzt hatte, spielte. Ich hatte meine eigenen Fähigkeiten mit dem Messer nicht vergessen, und außer den fetten Schafen und der Kuh und der Henne mit ihren Küken gab es auch eins oder zwei, die ich hinzugefügt hatte. Einen großen, kräftigen Wolfshund. Eine aufgerollte Schlange. Einen schlanken Otter. Wir brauchten keinen Raben: Wir hatten Fiacha, eine stetig wachsame Präsenz. Ich beobachtete meinen Sohn, als er zu meinen Füßen saß, und plötzlich wurden die Geschöpfe lebendig, und eins war ein Pferd, und darauf saß ein Reiter, der auf seinem Hemd das Wappen von Sevenwaters trug, zwei ineinander verschlungene Reifen. Es war mein Onkel Liam, irgendwo außerhalb des Waldes, der einen schmalen Weg zwischen felsigen Abhängen zurücklegte. Ein Schwirren erklang, und dann fiel mein Onkel mit einem Ausdruck milder Überraschung auf dem Gesicht seitlich vom Pferd, um reglos am Boden liegen zu bleiben, und ein rot gefiederter Pfeil ragte aus seiner Brust. Diese Vision verblasste, bevor ich sehen konnte, wie es weiterging, und ich war wieder in dem stillen Raum zu Hause.
»Wau«, sagte Johnny.
»Ja, das da ist ein Hund«, antwortete ich zittrig. Liam war zu Hause, und es ging ihm gut. Das war eins der Probleme mit dem Blick. Man könnte erzählen, was man sah, und andere warnen. Aber das war keine Garantie, dass man damit den Lauf der Dinge ändern konnte. Man beschloss vielleicht zu schweigen, um
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