Der Sohn der Schatten
von dem alten Lied, nur den Refrain mit seinem kleinen Melodiebogen. Seltsamer Wind rauschte über das Hügelgrab und gewann eine mächtige Stimme, ein tiefes Geräusch am Rand des Hörvermögens, ein Schrei, älter als die ältesten Erinnerungen der Menschheit. Er erklang aus dem großen Hügel, aus der Tiefe der Erde, vibrierte aus den Stehenden Steinen, ein Ruf, der nicht ignoriert werden konnte.
Komm heraus, Krieger! Ein Auftrag liegt vor dir, ein lebenslanger Auftrag, dessen Herausforderungen vielfältig sind, dessen Belohnung jedes Maß überschreitet. Komm jetzt heraus und zeig uns deinen wahren Mut. Zeig uns die wahre Kraft des Geistes, wie du es einmal getan hast, vor langen Jahren. Denn der Mann hat dieselbe Kraft, die das Kind schon hatte. Das Kind und der Mann sind eins.
Der Ruf erstarb, und das Rascheln wurde leiser, bis schließlich tiefe, erwartungsvolle Stille herrschte. Etwas wurde auch von mir erwartet, ich konnte es spüren. Bran lag reglos wie zuvor. Äußerlich hatte sich nichts verändert, bis auf die Tränen, die ihm über das Gesicht und auf meines liefen, so dass wir die Trauer um gute Menschen teilten, deren Leben viel zu kurz gewesen waren; die gleiche Trauer um verlorene Gelegenheiten. Ich musste etwas tun, aber ich war müde, so müde, dass ich glaubte, für immer schlafen zu können, dort im Warmen bei meinem Mann und meinem Sohn, den tiefen, unschuldigen Schlaf eines kleinen Kindes … aber nein, ich durfte nicht nachgeben. Der Morgen dämmerte beinahe, und ich hatte ihn noch nicht gerettet. Das Schweigen war vollständig, bis auf das winzige Flüstern in meinem Kopf. Tu es. Aber was? Was? Wenn er selbst auf diesen uralten Weckruf nicht reagiert hatte, was hätte ich noch sagen können, das ihn mehr ermutigte? Ich hatte alles getan, und immer noch rührte er sich nicht. Mein Vater hatte gesagt, für mich sei alles so einfach. Aber das war es nicht. Es war das Schwierigste, was ich je getan hatte … und dennoch, vielleicht war die Antwort sehr einfach.
Komm, Johnny. Im Geist hielt ich die Hand auf und streckte sie hinunter zu dem Kind, das in dem kleinen, dunklen Raum hockte. Er wollte nicht aufblicken; er hatte die Finger vor die Augen gelegt, als würde er unsichtbar bleiben können, wenn er das Licht fern hielt. Nimm meine Hand, Johnny. Es sind zehn Stufen nach oben, siehst du? Aber vielleicht weißt du nicht, wie man bis zehn zählt. Doch? Dann werden wir jetzt eine nach der anderen hinaufgehen und sie dabei zählen. Wenn wir oben sind, ist die Nacht vorüber. Nimm meine Hand, Johnny. Streck deine nur noch ein wenig weiter aus. Ja. Das ist gut. Braver Junge. Und jetzt zähle. Eins, zwei, drei … vier, fünf … gut gemacht … sechs, sieben … acht … jetzt ist es nicht mehr weit … du schaffst es … neun … zehn … gut, mein Herz. Sehr gut …
Die Stimmen der Alten bildeten das Echo zu meiner Stimme, wohlklingend und weise. Gut. Gut. Dann überwältigte mich plötzlich vollkommene Müdigkeit. Ich fiel in tiefen Schlaf, und ich träumte einen wunderbaren Traum, in dem ich an Brans Seite lag und die salzigen Tränen an seinen Wangen spürte, einen Traum, in dem er sich rührte und mich in die Arme nahm und mit den Lippen meine Schläfe streifte und wieder er selbst war. In meinem Traum schlang ich die Arme um seinen Hals und spürte seinen Körper warm und lebendig an meinem eigenen, und ich sagte ihm, dass ich ihn liebte und er erwiderte, ja, das weiß ich.
***
Abrupt wurde ich wach, und es war hell. Nicht das weiche Licht der frühen Morgendämmerung, sondern viel, viel später, helles Morgenlicht. Wie konnte ich nur so eingeschlafen sein? Ich streckte die Hand aus und berührte die kleine, schlafende Gestalt meines Sohnes, der ebenso in die Decke gewickelt war wie ich. War ich aufgewacht und hatte ihn gestillt und war wieder eingeschlafen, ohne es zu merken? Wie war so etwas möglich? Ich tastete weiter. Bran war verschwunden. Mein Mund wurde trocken, und eisige Finger streckten sich nach meinem Herzen aus. Er konnte doch nicht aufgewacht und aufgestanden sein! Das war unmöglich, nach so langer Zeit ohne Essen und Trinken; er wäre zu schwach gewesen. Das bedeutete … das konnte nur bedeuten … ich setzte mich hin und erinnerte mich zu spät, dass ich vollkommen nackt war. Ich griff nach meinem Hemd, wo ich es letzte Nacht neben den Strohsack gelegt hatte. Meine Hände zitterten. Ich konnte es nicht finden, und auch nicht mein Kleid. Es lag ein altes
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