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Der Sohn der Schatten

Der Sohn der Schatten

Titel: Der Sohn der Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juliet Marillier
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Johnny. Sie konnte nicht zurückkommen, obwohl sie es mehr als alles andere wünschte. Stattdessen bin ich jetzt hier. Hast du je gefragt, warum sie nicht zurückgekommen ist?
    Sein Herz begann zu rasen, und ich streichelte ihn mit den Fingerspitzen und wünschte mir ganz intensiv, dass wir beide ruhig bleiben würden. Sein Geist war voll finsterer Bilder, Schmerz, Verletzung, halb vollendete, verzerrte, aneinander gestückelte Bilder. Messer, Blut, Schreie; Hände, die loslassen, Tod. Verlust.
     … sie ist nie zurückgekommen … sie ist nie zurückgekommen …
    Sie hat dich geliebt. Sie hat ihr Leben geopfert, damit du in Sicherheit bist. Sie hat dich nicht verlassen, Johnny.
     … Abschaum … Bastard einer Schlampe … meine eigene Mutter hat mich nicht haben wollen … zu nichts gut …
    Das sind Lügen. Ich zeige es dir. Nimm mich mit zurück in die Zeit davor.
    Es gibt keine Zeit davor. Sie hat mich verlassen. Sei ganz still, Johnny … still wie eine kleine Maus, Liebling, ganz gleich, was du hörst … warte auf mich … ich komme und hole dich, sobald ich kann … ihre Hände, die mich nach unten schieben, wo es dunkel ist. Ihre Hände lassen los. Die Tür klappt zu. Sie ist nie zurückgekommen. Das ist alles, es gibt nichts anderes.
    Aber ich bin zurückgekommen. Sie konnte es nicht, aber sie hat dich geliebt und wünschte, dass du in Sicherheit bist. Nimm meine Hand, Bran. Ich bin ganz in der Nähe. Streck die Hand zu mir aus.
    Draußen um den Teich raschelten die Blätter. Aber es gab keinen Wind.
     … dunkel  … kann dich nicht sehen …
    Nimm mich mit in die Zeit davor. Tu es, Bran. Tu es.
    Ich habe dir doch gesagt, es gibt keine Zeit davor. Ihre Hände, die mich loslassen … nichts sonst.
    Wer hat dich gelehrt zu zählen, eins, zwei, drei, bis zehn? Ein kluges Kind. Ein Kind wie dein eigener Sohn, begierig nach Wissen und abenteuerdurstig. Wer hat die weißen Steine für dich hingelegt und dir die Zahlen beigebracht?
     … eins, zwei, drei, vier … ihre Finger haben sauber geschrubbte Nägel, kleine, feine Hände. Ich komme bis zehn, und sie klatscht in die Hände. Ich blicke auf, zufrieden mit mir, und sie lächelt. Ihr Haar ist wie Sonnenschein, ihre Augen strahlen. Gut, Johnny, gut. Was für ein kluger Junge! Sollen wir es wieder machen? Wir legen deine kleinen Schweinchen in zwei Reihen, genau so. Und jetzt wird der Bauer sie zählen, die Hälfte kommt auf den Markt, die Hälfte wird für den Winter gemästet. Wie viele in dieser Reihe … eins, zwei, drei … aber sie ist weggegangen … sie hat mich losgelassen …
    Sie hätte dich nie freiwillig verlassen. Sie hat dich versteckt, und dann hat sie ihr Leben für dich gegeben. Hast du nicht die Geschichte gehört, die mein Vater erzählt hat? Deine Mutter war eine sehr, sehr tapfere Frau. Sie wollte ein Leben voller Freude und guter Ziele für ihren kleinen Mittwintersohn; sie wünschte sich, dass er immer auf das Licht zugeht. Was deinen Vater angeht, der Stolz auf dich stand in seinen Augen, wenn er dich mit seinen starken Händen hochgeworfen hat … hoch, hoch in die Luft  … so hoch, und du weißt dennoch, dass diese Hände dich immer fangen werden.
     … ich kann nicht … ich …
    Immer würde er dich auffangen, jedes Mal. Seine Augen waren so grau und fest wie deine eigenen und so wahr. Kehr zurück, Johnny. Kehr zurück in die Zeit davor.
    Hoch, hoch und runter. Hoch, hoch und runter. Hoch in die Luft. Ich falle in seine Hände. Er lächelt. Lockiges Haar, wettergegerbtes Gesicht. Die Augen leuchten vor Stolz. Ich kreische vor Begeisterung. Jetzt ist Schluss, Sohn, sagt er grinsend, du machst mich müde. Noch ein letztes Mal, hoch, hoch und runter. Dann Arme um mich, warm und stark. Ich lege den Kopf an seine Schulter, stecke den Daumen in den Mund. Gut. Sicher.
    Ich spürte einen Wassertropfen auf meinem Gesicht, warm in der Kälte der Nacht. Aber es war nicht ich, die weinte. Ich wagte nicht, den Kopf zu heben. Ich wagte nicht, mich dort wegzubewegen, wo ich mich dicht an ihn drückte, um nicht etwas zu zerstören, das so zerbrechlich war wie ein einzelner Faden eines Spinnennetzes. Ich holte tief Luft und spürte, wie die vollkommene Erschöpfung von mir wich, es war beinahe überwältigend. Der ganze Hain ringsumher rührte sich, Blätter raschelten, Zweige knackten, Wasser gurgelte; sogar die Steine schienen ins Dunkel hinauszurufen.
    »Helft mir«, flüsterte ich ins Dunkel. Und ich summte ein wenig

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